Drei große familienpolitische Schlagworte haben Deutschland im vergangenen Jahr bewegt: Elterngeld, Kita-Plätze und Homo-Ehe. Bei ersterem wurde – insbesondere in Politik und Medien – viel um die Beteiligung der Väter diskutiert, zweiteres erhielt mit dem 1. August durch den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr des Kindes ein wichtiges Update. Die sogenannte Homo-Ehe, also die Eintragung einer Lebenspartnerschaft zwischen Homosexuellen, ist in Deutschland bereits seit 2001 möglich, in Ungarn seit 2009 – heuer kamen unter anderem Neuseeland und Frankreich hinzu, teils begleitet von heftigen Gegendemonstrationen.
Doch wenn es um Familienpolitik geht, spielt oft auch die Frage um die Definition von Familie eine große Rolle: Was schließt der Begriff ein, was aus? In diesem Zusammenhang hat jeder eine gewisse Definitionsmacht darüber, wie er den Begriff interpretiert. Doch Macht ist auch ein Stichwort innerhalb von Familien. Ob es um finanzielle Macht geht, zum Beispiel in Form von Erbe, oder um häusliche Gewalt als Form der Machtausübung: Michel Foucault war es, der feststellte, dass sich dort, wo Menschen sind, stets auch Machtbeziehungen finden lassen. Über dieses weit verästelte Verhältnis von Familie und Macht diskutierten am 7. September drei Soziologen unterschiedlicher Herkunft innerhalb der Reihe „Gespräche über die Macht“ im Goethe-Institut: Als deutsche Teilnehmerin wirkte Insa Schöningh mit. Die Soziologin und Autorin ist Bundesgeschäftsführerin der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen. Daneben nahm der ungarische Soziologe Péter Somlai an der Gesprächsrunde teil. Der Professor Emeritus der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Eötvös Loránd Universität befasst sich mit Themen der Sozialwissenschaften und Familiensoziologie. Der dritte Gesprächsteilnehmer, der Franzose Jean-Louis Fabiani, ist Autor, Professor der Soziologie und Sozialanthropologie an der Central European University in Budapest und Studiendelegierter der Hochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.
Weniger Ehen, mehr Familienformen
Oft sind es Zahlen, die längst wahrgenommene Entwicklungen erst gänzlich real zu werden scheinen lassen. Einige Zahlen solcher Art präsentierte Péter Somlai im Goethe-Institut. So gab es laut Ungarischem Statistischem Amt KSH 1970 noch 600.000 Alleinstehende in Ungarn – 2011 dagegen sagenhafte 1.300.000. 1990 waren 80,1 % der Ungarn verheiratet – 21 Jahre später sind es nur noch 65,3 %. In Lebenspartnerschaften befanden sich 1990 nur 4,3 % aller Ungarn – 2011 sind es stolze 14,9 %. Die Zahlen können auf ganz unterschiedliche Art und Weise bewertet werden. In erster Linie zeigten sie jedoch, so Somlai, dass heute in Ungarn eine immer größer werdende Vielfalt an Lebens- und Familienformen herrsche und dass sich neben der Ehe auch immer mehr andere Formen des Zusammenlebens ausbreiten. Eine Feststellung, der auch Somlais Kollegen Insa Schöningh und Jean-Louis Fabiani zustimmen. „Die Patchwork-Familie zum Beispiel ist heute sogar typisch für die Mittelschicht und tritt immer öfter als Familien-Typus auf“, ergänzt ihn der französische Soziologe Fabiani. Ähnlich verhält es sich mit in Partnerschaften Lebenden und Alleinstehenden. Auch diese sind familiär angebunden. Zu Alleinstehenden lassen sich immerhin auch Witwen und Witwer, Geschiedene und – klassischerweise – Singles zählen, die zwar alleine leben, aber durchaus Familie haben. Einen modernen Subtyp von Familie bildet auch das sogenannte „Living apart together“, wie Somlai und Fabiani erklären: „Das bedeutet, dass ein Partner auf dem Land, im Ausland oder im Gefängnis lebt, man sich aber am Wochenende oder so oft es eben möglich ist trifft.“ Eine Familienform, die heute immer häufiger auftritt. Kein Wunder, ist doch die unliebsame „Fernbeziehung“ allgegenwärtig.
So formuliert Somlai die These: Die Vielfalt an Familienformen ist Realität; das beweisen die Statistiken in letzter Instanz. Die Legislative leistet dieser Vielfalt jedoch nicht Genüge. Mit Legislative meint Somlai nichts Geringeres als die ungarische Verfassung – in ihrer aktuellen Form. Denn das Grundgesetz erhielt nach seiner vierten Änderung im März dieses Jahres einen Paragraphen, der sich zwar mit Familie befasst, sie jedoch auf die Ehe zwischen Mann und Frau und das Eltern-Kinder-Verhältnis reduziert. In der Konsequenz bedeutet das nichts anderes, als dass alle anderen Formen von Familie, wie sie in der selbst zahlenmäßig erfassten Realität existieren, rechtlich genau dies nicht sind und dadurch beispielsweise von staatlichen Zuwendungen ausgeschlossen werden können. So sind zum Beispiel homosexuelle Paare per Verfassung nicht im Familienbegriff integriert. „Das ist ein Denken wie vor der französischen Revolution, ein neokonservativer, homophober Gedanke, anders kann ich’s nicht formulieren”, so Somlai.
„Kindern geht es um Bindung und Liebe – nicht um Ehe”
Die Ehe als rechtlich beschlossener Entwurf von Familie? Auch eine Verfassung kann nichts daran ändern, dass sowohl in Deutschland und Ungarn als auch Frankreich immer weniger Ehen geschlossen werden. Und das muss sie auch nicht, meint Insa Schöningh: „Die Familienpolitik sollte sich stärker Richtung Kind orientieren, als sich so auf die Ehe zu fokussieren. Kindern ist es egal, ob ihre Eltern verheiratet sind. Ja, ihnen ist es sogar egal, ob sie mit ihrem biologischen oder einem Ziehvater zusammenleben. Wichtig ist, dass es Bindung gibt, Liebe und Zuverlässigkeit.”
Wieso aber haben sich die Zahlen überhaupt so entwickelt? Wieso heiratet man heutzutage oft gar nicht mehr, oder aber immer später? „Nicht jeder benötigt eine öffentliche Bestätigung für Vertrauen, Liebe und Kinder. Viele Eheschließungen passieren heute erst nach ein, zwei Kindern. Die Ehe kann aber natürlich auch eine Form der Anerkennung sein – gerade bei Homosexuellen.“ Dem stimmt auch Fabiani zu: „Die Zulassung der Homo-Ehe in Frankreich und anderswo eröffnet neue Perspektiven. Das Gesetz war notwendig, auch wenn es in letzter Zeit nicht so viele homosexuelle Eheschließungen gab. Ich habe das Gefühl, dass sich das Verhältnis zwischen Familie und Tradition verbessert. Und ich denke, in Zukunft könnten noch mehr Formen von Familie entstehen.“
Die Reihe wird am 29. Oktober mit dem Thema „Macht und Wissenschaft“ im französischen Kulturinstitut fortgesetzt.
Lisa Weil