Vor dem kleinen Café sammelt sich ein Pulk Menschen. Große, kleine, in geblümter Bluse und mit hängenden Mundwinkeln, und jeder trägt eine andere markant strahlende Farbe am Leib, eine mollige alte Dame zieht aus ihrer Jackentasche eine winzige Digitalkamera und schiebt sich vor den Eingang, so dass sie allen anderen Touristen die Sicht auf unseren Tisch versperrt. Bourel dreht sich zu dem Grüppchen um und flüstert schmunzelnd in meine Richtung: „Auch das wäre wieder ein Moment, der mich begeistert“. Seine Sicht auf die Stadt und ihre Bewohner hingegen entzückt seit Jahren nicht nur die Besucher der Kunstmuseen, sondern fängt auf besondere Weise das Budapester Lebensgefühl ein.
Per Losverfahren verschlug es den jungen Bruno Bourel im Mai 1989 eher zufällig nach Budapest. Ein Austauschprogramm verschaffte ihm die Möglichkeit, als Reportagefotograf die Stadt kennenzulernen. In seiner Heimatstadt studierte er Film und Fotografie, schnell fand er in der hiesigen Künstlerszene Gleichgesinnte. Gemeinsam mit amerikanischen Journalisten gründete er bei seinem zweiten Aufenthalt mit der Budapest Week die erste englischsprachige Zeitung der Stadt . Eine Polaroidkamera war damals seine ständige Begleiterin: „Das Bild muss sofort in den Rahmen gesetzt werden. Diese Art der Fotografie lässt keine Tricks zu, deshalb schult sie in besonderem Maße den fotografischen Blick“. Bei einem Besuch in angesagten New Yorker Galerien der damaligen Zeit riet man ihm allerdings davon ab. Ein großer Abzug für eine Ausstellung wäre so nicht möglich, als professioneller Fotograf solle er lieber auf Negativrollfilm umsteigen. Vorsichtig zieht Bourel bei diesem Satz eine kleine analoge Leica aus seinem Mantel hervor, wiegt sie kurz in Händen und hängt sie sich um die schmalen Schultern. Kaum noch sichtbar ruht sie nun dort, während er fortfährt: „Es ist kein Job, sondern eine Lebenseinstellung. Ich habe einfach immer die Kamera dabei, sie ist mein drittes Auge“, und der schwarzweiße Rollfilm ist seit jener Zeit in New York sein Medium. Im Spätherbst diesen Jahres erscheint die mittlerweile vierte Auflage seines Buches „Fényrajzok – Lichtzeichnungen“, das in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Lajos Parti Nagy entstanden ist. Darin findet sich eine Sammlung seiner außergewöhnlichen Momentaufnahmen, die er in einer Zeitspanne von zehn Jahren hauptsächlich in Ungarns Hauptstadt eingefangen hat.
Mit großer emotionaler Hingabe und großer Sensibilität für die ganz alltägliche Menschlichkeit geht der Betrachter gemeinsam mit Bourel auf einen Spaziergang. Dabei gerät er häufig ins Stolpern und wundert sich am Ende über seine eigene eingefahrene Weltsicht. Unweigerlich stellt er sich die Frage: Hast du lange Zeit nicht mehr mit offenem Herzen in die Welt vor deiner Haustür hinausgesehen?
„Es geht aber nicht darum, ob deine Fotos immer und überall Anklang finden, sondern ob du willens genug bist, dich durchzusetzen“, sagt Bourel und richtet sich auf. In Budapest war es für ihn nicht immer leicht. Ein Franzose, ein Pariser Fotograf fängt das Flair dieser rumorenden Stadt ein, wie es wenige vor ihm taten. Das Licht sei anders als in seiner Heimatstadt, wo der Himmel die Straßen häufig länger als zwei Tage hintereinander in einen Grauschleier hüllt. Beinahe jeden Tag bewegt er sich durch Budapest, denn man „weiß ja nie, was einen erwartet“. Die Fotografien entstehen häufig aus dem Zufall heraus, wie beispielsweise die Aufnahme „Tag des EU-Beitritts“ aus dem Jahr 2004. Ganz entgegen den Erwartungen, die der Titel weckt, sieht sich der Betrachter einem Liebespaar in inniger Umarmung gegenüber. Den Stolperstein dabei markiert die junge Frau, die währenddessen direkt in die Linse der Kamera lächelt, anstatt sich allein der Zweisamkeit hinzugeben. Dieser flirty moment ist in seiner Authentizität so ergreifend und zeitlos, dass darin eine große Kunst liegt. „Aber ich würde mich nicht als Künstler bezeichnen, sondern eher als jemanden, der mit und von der Kunst lebt, jedoch nicht ausschließlich dafür“, wirft Bourel ein.
Seine Vorbilder sind unter anderen der Amerikaner Lee Friedländer und der Magnum-Mitbegründer Henry Cartier-Bresson, dessen Fotografien ebenfalls als Postkarten veröffentlicht wurden. „Daher rührte auch meine Idee für die Umsetzung meiner Aufnahmen als Einzelstücke“, erklärt Bourel, „die Qualität ist einfach eine ganz andere als innerhalb des Fotobuches“. Anfangs sollten die Fotografien ohne Titel, ohne Angabe von Ort und Zeit veröffentlicht werden, doch gerade darin liegt bei einigen Motiven die Faszination. „Ein Regen von Regenschirmen“ aus dem Jahr 1994, einer der Bestseller der Sammlung, erzählt von der Wiedereröffnung einer Kirche am Gellértberg. Die Menschen strömten in Scharen zum Fuß des Berges, um der Zeremonie beizuwohnen. Da es an diesem Tag regnete, bildete sich vor Bourels Füßen dieses Meer aus Regenschirmen, und er war wie immer bereit, den Moment festzuhalten.
„Es ist Intuition und hängt in keinster Weise mit der benutzten Technik zusammen“, denn auch mit einer Handykamera lassen sich bewegende Fotografien machen. Bruno Bourel steht den neuen digitalen Medien aufgeschlossen gegenüber, so sind mehrere grafisch aufwendige E-books geplant, außerdem hat er die Idee, seine Serie „Jégbüfe“ auf beweglichem Untergrund auszustellen. „Das muss alles noch besser geplant werden“, sagt er und sieht nachdenklich aus dem Fenster. Das Licht scheint golden herein, „es ist wunderschön, ich werde mich jetzt wieder auf den Weg machen“, sagt er, „und versuchen, das Licht in Emotionen zu verwandeln.“