Der Blog „Fent és lent“ (zu Deutsch: „Die Oberen und die Unteren“) begann als Plattform für die linke patriotische Bewegung „4K!“. Obwohl heute eigenständig bleibt er eng mit ihr verzahnt, die Blogger kommentieren die nationale und internationale Politik und thematisieren städtische Themen. Dahinter steckt die Idee, die ungarische Gesellschaft auf der lokalen Ebene zu ändern und wieder ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen. Mittlerweile ist ihr Blog einer der größten des Landes.
Balázs Szőllőssy steht in dem weiß-blau gestreiften Zirkuswagen hinter der Bar und presst mit einem Stößel Saft aus den Orangenstücken. Hier, im Valyo Part, im Schatten der Kettenbrücke, sollen auch Einheimische den heißen Sommer günstig überstehen können. Das Wort “valyo” setzt sich aus den ungarischen Wörtern für Stadt (város) und Fluss (folyó) zusammen. Szőllőssy sagt: „Wenn du etwas brauchst, das es noch nicht gibt, musst du es selbst erschaffen.“ Diese Einstellung trieb ihn zusammen mit einer Gruppe von Leuten im Jahr 2009 dazu, den Blog „Fent és lent“ ins Leben zu rufen.
Eine neue Sprache
Ihre Zielgruppe sind junge, linksorientierte Leute. „Fent és lent” bezieht sich auf die Schere zwischen Arm und Reich, die immer größer sei. Deshalb versehen sie ihre Posts auch mit einem „oben” und einem „unten” (fent und lent), um zu zeigen, ob sie die Angelegenheit, über die sie schreiben, gut oder schlecht finden. „Wir wollen eine neue linke Sprache etablieren – weg von dem theoretischen Gerede.“ Sie vermeiden in ihren Beiträgen die im Kommunismus inflationär benutzten Begriffe wie „Solidarität“ und „Brüderlichkeit“, um die Leute nicht zu verschrecken, denn das alte System wollen sie nicht wieder zurück. Qualitativ gute Texte und eine eingängige Sprache hätten dafür gesorgt, dass in guten Zeiten bis zu 12.000 Leser pro Monat die Seite lesen. Die knapp 20 Autoren schreiben freiwillig neben ihrer regulären Arbeit, sie sind in NGOs aktiv, arbeiten an der Universität, studieren oder sind in der Politik. Sie kommentieren die nationale Politik, insbesondere die Regierung von Viktor Orbán. In ihren Posts erzählen sie auch von neuen Initiativen, sie berichten über städtische Themen, Verkehr und Transport. Sie schreiben auch über Festivals und verfolgen die Revolution in Syrien. „Wir wollen damit zeigen, dass Politik eben doch ein breites Feld ist, das jeden betrifft, und erreichen, dass sich die Menschen wieder dafür interessieren.“ Tatsächlich kommentieren die Leser die Texte rege, „wir mussten zuerst einmal moderieren lernen.“ Dem Post über die Privatsphäre der Arbeiter in ABM-Stellen folgten zum Beispiel knapp 600 Kommentare. „Wir nehmen damit unsere Redefreiheit wahr und drücken unsere Ideen aus.“ So verbinde sie auch mit der Internetplattform atlatszo.hu (die BZ berichtete) eine gute Freundschaft. Atlatszo.hu setzt sich als Anwalt für die Informationsfreiheit ein und dient als Möglichkeit für investigative Journalisten, ihre Beiträge ohne die Beeinflussungsversuche von Politik und großer Medienunternehmen zu veröffentlichen.
Blogs als Alternative
Szőllőssy – Aktivist, Autor und Dichter – hat neben dem Blog auch die Gründung des Valyo Part initiiert, er organisierte 2009 als Teil der Bewegung „4K!“ verschiedene städtische Aktionen wie die Capture the Flag-Spiele in Budapest, um die mangelhafte Nutzung des öffentlichen Raumes zu kritisieren. Zum Zeitpunkt ihrer Gründung hatte index.hu die digitalen Medien erobert, erreichte als erstes Online-Newsportal den Mainstream mit einer großen Leserschaft. „Wir erkannten, dass Blogs sehr wichtig für die Ziele unserer Bewegung sein können“, erzählt er. Zwar gingen bald eine Handvoll, meist konservativer Blogs online, doch keiner hätte für die selbsternannte neue Linke eine Plattform werden können. Bereits nach zwei bis drei Monaten der Existenz verfolgten täglich 5.000 Menschen die Posts. „Index.hu bewirbt auf seiner Hauptseite einen anderen Blog. Unser Ziel war es, dass sie uns verlinken. Der Rest lief von alleine.“
Er gehöre zu der neuen, linksgerichteten Generation, die nach dem Ende der Sowjetunion groß geworden ist, sagt der Autor. „Wir sind patriotisch und urban, aber ohne nationalistisch zu sein, wir sind in Sorge um unser Land.“ Obwohl der Blog sich ein halbes Jahr nach seiner Gründung offiziell von „4K!“ gelöst hat, vertreten seine Mitarbeiter größtenteils die gleichen Forderungen, in dem Beitrag „Egy másik baloldal felé“ (Auf zu einer anderen Linken) stellen sie ihre Vision vor: „Das Land kann sich nicht aufraffen, wenn es nur der Idee des Liberalismus, der die Gemeinschaft negiert, oder einem romantisierten Nationalgedanken anhängt.“
Parteien und Blogs
Die aus „4K!“ hervorgegangene Partei fordert in ihrem Wahlprogramm Rechtsstaatlichkeit, verfassungsrechtliche Garantie für fundamentale Rechte, die Unabhängigkeit der Justiz, eine vernünftige Wirtschaftspolitik und die soziale Integration der Roma in Ungarn. „Wir sind natürlich immer noch mit 4K! verbunden und teilen die meisten ihrer Überzeugungen.“ Nur von der Parteipolitik wollen sie sich fernhalten. So steht Szőllőssy auch der Allianz um Gordon Bajnai kritisch gegenüber. Dahinter steckt die Überzeugung, dass die meisten ungarischen Politiker sich nicht mehr um das Gemeinwohl bemühen. „Politik ist in Ungarn immer mit Geld verbunden, Korruption ist überall.“ Das zeige schon die Tatsache, dass selten ein Politiker zurücktrete, selbst nach großen Skandalen nicht. Ansatzpunkt für die Köpfe hinter Fent és lent sei deshalb die lokale Ebene, nicht die Parteipolitik, auch deshalb habe man sich von 4K! getrennt. Initiativen wie Valyo Part sollten wieder Vertrauen in eine Gemeinschaft schaffen. Nachmittags fanden hier fast den ganzen August lang Programme für Kinder statt, abends legten Djs auf, Autoren lasen, und Bands spielten bis tief in die Nacht. Das sei auch notwendig: „Erst kürzlich landete Ungarn bei einer weltweiten Umfrage auf dem letzten Platz, die Ungarn sind einfach nicht glücklich.“
Die Popularität des Blogs ist aber auch auf den Zustand der ungarischen Medien zurückzuführen: „In Ungarn gibt nur wenige Tageszeitungen, und die, die es gibt, sind nicht unabhängig, genauso wie die TV-Sender.“ Blogs sind also eine gute Alternative, um sich anderweitig zu informieren – und die Beiträge sind deutlich subjektiv geschrieben. Fent és lent wird vor allem von Leuten im Alter von 25 bis 44 Jahren gelesen. Dass Blogs viele Menschen erreichen können, haben auch die Parteien erkannt. „Die Situation der Offline-Medien hat sich auf die digitalen Medien ausgeweitet“, behauptet Szőllőssy. Die parteipolitische Färbung habe sich auf die Blogs übertragen. Dafür spräche, dass der Blog Mandiner mit der Regierungspartei Fidesz verbunden ist. Und erst kürzlich habe sich auch herausgestellt, dass der Blog egyenlitő von der Partei MSZP (Sozialisten) finanziert wird, nachdem eine Mailing-Liste den Blick auf E-Mails freigab.
Mitte August hatten die Blogger von Fent és lent auf den pinkfarbenen und blauen Holzbänken am Donauufer ihre erste offizielle Redaktionssitzung, weil einige von ihnen auch dort mithelfen. Zuvor lief alles via Internet. Die Mitarbeiter haben große Pläne: „In fünf Jahren wollen wir mit kuruc.info konkurrieren können; das mit der rechtsradikalen Partei Jobbik verbunden ist, und wir wollen eines der großen Webportale sein, das Neuigkeiten kommentiert“. Dafür müssten sie aber noch ein Finanzierungssystem entwickeln. Bisher halten sie sich mit kleineren Werbeeinnahmen über Wasser, jedoch nur von Freunden. „Mit größeren Werbekunden ist es schwierig, da wir diese gelegentlich auch mal kritisieren.“ Durch die Kooperation mit index.hu ist zudem die Hälfte der Seite für deren Inhalte reserviert. Eine weitere Frage ist, wie sie mit dem Blog den Wahlkampf für die Wahlen 2014 begleiten könnten. Noch im Jahr 2010 hatten sie in ironischen Posts geschrieben; warum man für welche Partei stimmen sollte. „Im nächsten Jahr fragen wir dann vielleicht einfach danach, warum man sie nicht wählen sollte“, sagt Szőllőssy schmunzelnd und füllt kalte Limonade in den Plastikbecher.
Am Nationalfeiertag umzäunen Metallgitter das kleine Areal, Sicherheitsleute bewachen den Roosevelt tér, während von gegenüber die Musik dröhnt. Im Valyo Part ist es das erste Mal seit zweieineinhalb Wochen still, nur ein paar Erasmus-Studenten machen ein Picknick auf einem der langen Tische.
Dutzende ungarische Flaggen säumen die Kettenbrücke.