Der ausgewiesene Historiker (2010: Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung) und Romancier (1995: Adelbert von Chamisso-Preis) György Dalos hat nach seinen beeindruckenden Erzählwerken “Die Beschneidung”, “Die Balatonbrigade” und “Jugendstil” einen neuen Roman vorgelegt: “Der Fall des Ökonomen”. Diesmal taucht der Autor wieder tief ins jüdische Milieu ein, zeichnet das Schicksal eines jungen Mannes nach, der, ebenso wie der Autor, in den sechziger Jahren ein Studium in Moskau absolviert hat. Allerdings nicht deutsche Geschichte wie der Erzähler, sondern Volkswirtschaft.
Eigentlich will Kolozs Literaturwissenschaft studieren und sich vor allem mit dem Dichterfürsten Alexander Puschkin beschäftigen. Doch es kommt anders: Der Jungkommunist wird zum Studium der Ökonomie nach Moskau delegiert. Hier zeigt sich alsbald, dass er in diesem Fach eigentlich am falschen Platz ist. Während seine Kommilitonen sich im spätsozialistischen Dschungel zwischen Karrierebewusstsein und Korruption ausgesprochen gut zurechtfinden, kann er sich nicht wirklich freimachen von ewig überkommenen sittlichen Normen.
Aufstieg und Fall
Der familiären Misere und dem kleinbürgerlichen Milieu, ebenso dem Judentum des Vaters kann er nur vorübergehend entkommen. Vor der Wende durch eine günstig scheinende Heirat, die sich schließlich als nicht lebbar erweist und somit zum Scheitern verurteilt ist. Daran ändert auch nichts der bemitleidenswerte Versuch, die Beziehung später wieder aufzuwärmen.
In der Zeit des real existierenden Sozialismus gelingt ihm für einige Jahre eine Karriere als Reformwirtschaftler, die ihm den Ruf eines Dissidenten einbringt, was letztlich zu einem ersten sozialen und politischen Absturz führt, als die Wirtschaftsreformer ins Abseits gedrängt werden.
Aufstieg nimmt abruptes Ende
Ähnlich ergeht es ihm nach der Wende, als er dank seinem Studienfreund in einem parlamentarischen Wirtschaftsausschuss arbeiten darf. Doch auch dieser soziale Aufstieg mit eigener Wohnung nimmt aufgrund der politischen Entwicklung ein abruptes Ende. Erneute Armut ist die Folge. Hunderte Bewerbungen auf verschiedenste Stellenangebote bleiben unbeantwortet oder werden mit fadenscheinigen Begründungen abschlägig beschieden.
Zunehmend unmenschliche kapitalistische Gesellschaft
Und Kolozs findet sich in der Enge der elterlichen Wohnung wieder, lebt von der Rente des betagten Vaters, eines Holocaustüberlebenden, der zusätzlich auch von einer Schweizer Stiftung monatliche Zuwendungen erhält.
Bis hierher eine Geschichte, in der sich viele arbeitslose Akademiker wiedererkennen könnten. Dass der Erzähler Einblicke in jüdisches Leben, Denken und Fühlen gewährt, bedeutet keineswegs, dass sich Vergleichbares nicht auch in einer nicht-jüdischen Familie abspielen könnte. Bis hin zur tragikomischen Wende, dass Kolozs sich allmählich entgegen seinen Moralvorstellungen in einem verlogenen Leben einrichtet, die monatlichen Zuwendungen der Schweizer Stiftung statt des verstorbenen Holocaustüberlebenden kassiert, um in einer zunehmend unmenschlichen frühkapitalistischen Gesellschaft auch selbst überleben zu können.
Leben über den Tod hinaus
Fast könnte man sich an Raskolnikow erinnert fühlen, auch wenn bei ihm die existentielle Frage lautet, ob man das Leben eines gesellschaftlichen Schmarotzers auslöschen dürfe. Dalos kehrt das moralische Problem um, indem er darüber nachsinnt, ob man ein Leben über den Tod hinaus bürokratisch verlängern dürfe, um die eigene Existenz zu sichern. Ja, wäre da nicht die Angst vor dem Auffliegen, als sich der hundertste Geburtstag und die Gratulanten nähern.
Gute Geschichte -aber noch nicht der Gipfel
Dalos wäre nicht Dalos, würde im Roman nicht immer wieder der ihm eigene jüdische Humor durchschimmern, wie wir ihm schon in den Geschichten über seine Großmutter und der großen Erzählung “Die Beschneidung” begegnet sind. Der “Fall des Ökonomen” ist die Geschichte seiner Generation, gespickt mit vermutlich autobiographischen Einschüben aus seinen Moskauer Studentenjahren. Ein sehr lesenswertes Buch, auch wenn ich zu der Annahme neige, dass der Gipfel seines literarischen Schaffens noch nicht erreicht ist. Vielleicht wird er diesen erstürmen, wenn er sich dazu durchringen kann, einen durch und durch autobiographischen Roman ins Auge zu fassen.
György Dalos
Der Fall des Ökonomen
Roman
Rotbuch Verlag 2012
191 S.
18,95 Euro