Deutschland kann man mögen oder kritisieren, aber niemals außer Acht lassen. In Berlin geben sich die Politiker die Klinke in die Hand. So ist die deutsche Hauptstadt auch für die Präsidenten der USA und Chinas stets ein Muss, wenn sie Europa einen ihrer immer seltener werdenden Besuche abstatten, gar nicht zu sprechen von den Staats- und Regierungschefs der EU-Länder. Was die Zukunft der EU angeht, führt an Deutschland kein Weg vorbei.
Gleichwohl ist Deutschland nicht Moskau, wo man seinerzeit Genehmigungen einholen und bisweilen um Vergebung bitten musste. Ohne ein starkes Deutschland gibt es kein starkes Europa. Wer das nicht verstehen will, der hat kein Interesse an einem starken Europa. Deswegen ist es erfreulich, dass Angela Merkel Viktor Orbán empfangen hat, der aus seinen Zweifeln bekanntlich keinen Hehl macht.
Zum Beispiel in Fragen der EU, der Euro-Zone oder der Kohäsionsfonds. Viktor Orbán ist nicht der Erste, der in Berlin zur Sprache bringt, dass sich die EU in einer tiefen Krise befindet. Allerdings: Da ein Beitritt Ungarns in die Euro-Zone noch in weiter Ferne liegt, hat die Regierung kaum einen Einfluss darauf, die Herausbildung eines Europas der zwei Geschwindigkeiten zu verhindern. Für Ungarn geht es dieser Tage in erster Linie darum, in Berlin die Frage der Kohäsionsgelder zu thematisieren. Eine Hilfe könnte hierbei sein, dass die Haushaltskommission des Europäischen Parlamentes gerade am Tag des Treffens zwischen Merkel und Orbán den vorläufigen EU-Budgetentwurf für den Zeitraum 2014-2020 abgesegnet hat. Demnach werden die Kohäsions- und Agrarausgaben zumindest auf dem Niveau des Budgetzeitraums 2007-2013 bleiben.
Aus Sicht der Regierung war das Treffen Orbáns mit Angela Merkel auch insofern wichtig, als die deutsche Bundeskanzlerin ohne die verzerrende Optik der Medien aus erster Hand von den Veränderungen in Ungarn hören konnte, beispielsweise von der wirtschaftlichen Stabilisierung, die auch in Berlin misstrauisch beäugt wird oder von den Zukunftsaussichten für deutsche Investoren. Es gibt also genug Fragen, die eine größere Häufigkeit solcher Treffen nahelegen würden.
Auch Themen gibt es im Überfluss. Die wichtigste Aufgabe für Ungarn liegt heute aber darin, das Misstrauen Deutschlands zu zerstreuen. Berlin – wir sprechen hier nicht nur von der Presse – hat sichtlich Probleme damit, jenen Stil, der mit den innenpolitischen Veränderungen einhergegangen ist, zu verstehen. Auch sorgt sich Deutschland um die ungarische Demokratie, insbesondere aber um die wirtschaftliche Stabilisierung. Und dann haben wir noch nicht von der Sicherheit der deutschen Investitionen gesprochen, die mit den nationalen Interessen Ungarns nicht immer unter einen Hut zu bringen ist.
Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, dürfte die deutsche Kanzlerin mit dem Besuch Orbáns endlich beruhigende Antworten auf offene Fragen bekommen haben – statt „mythisch-raunender” Worte. Viele Fragen sind natürlich weiterhin offen geblieben. Was aber am Wichtigsten ist: Die Kanzlerin wurde direkt von Orbán über die politischen Absichten und Beweggründe der Regierung informiert. Berlin muss verstehen, dass die Regierung Orbán der EU gegenüber nicht feindlich gesinnt ist. Ihr mitunter bärbeißiger Stil ist der Ohnmacht Europas geschuldet, mit der sie schlicht und einfach nicht zurechtkommt. Weiterhin muss sie verstehen, dass die ungarische Regierung nicht die Absicht verfolgt, die Demokratie abzubauen, sie will bloß das Land reformieren.
Sollte es Viktor Orbán gelungen sein, der deutschen Kanzlerin dies zumindest teilweise verständlich zu machen, dann hat das Treffen auf jeden Fall Sinn ergeben. Denn: Ob es uns gefällt oder nicht, Ungarn ist auf Gedeih und Verderb vom Verständnis und Wohlwollen Deutschlands abhängig. Und das nicht nur deshalb, weil die sogenannte unorthodoxe Wirtschaftspolitik auf den deutschen Konjunkturaufschwung wartet.
Die historischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und Deutschland müssen hier wohl kaum erklärt werden. Umso mehr verwundert es, dass in der deutschen Presse immer wieder Töne tiefer Abneigung angeschlagen werden, denen nicht selten die reale Grundlage fehlt. Selbst auf offizieller Ebene sticht eine unerklärliche Zurückhaltung immer wieder ins Auge. Das muss überwunden werden. Berlin ist nämlich näher als wir denken.
Der Autor ist Kommentator der regierungsnahen konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet. Der hier abgedruckte Text erschien am 12. Oktober 2012 ebendort.