Von einem, der auszog, das Fürchten zu lehren
Mathias Énards Roman Zone entführt den Leser in die jüngste Geschichte des Mittelmeerraums. In einem einzigen, sich über fast 600 Seiten erstreckenden Satz stürzt er sich in den Balkankrieg, die Kriegsgräuel, die sich gewissermaßen vor unserer Haustür abgespielt haben.
Ob es Sinn macht, die Konzentrationsfähigkeit seiner Zeitgenossen zu strapazieren, ihnen nur einen einzigen Satz zum Lesen anzubieten, darüber lässt sich gewiss streiten. Ich meinerseits halte es für eine Zumutung, überflüssig auch deshalb, weil die Logik dieser Konzeption kaum nachvollziehbar ist. Auch höre ich nicht das Rattern des Zuges, spüre vielmehr einzig die Gewalt, die der Sprache mit jedem fehlenden Punkt und Komma angetan wird. Sollte Énard mit seiner doch ziemlich willkürlich wirkenden Interpunktionsstrategie eine Rhythmisierung der Gedanken angestrebt haben, dann darf der Rezensent Zweifel am Gelingen anmelden. Sollte es ihm aber darum gegangen sein, eine sprachliche Möglichkeit zu schaffen, eine Assoziationskette lose miteinander zu verknüpfen, die Ähnlichkeit anzudeuten, wie die Gedanken auch im Kopf des Erinnernden scheinbar zusammenhanglos umher schwirren, um schließlich ein beeindruckendes Zeitgemälde entstehen zu lassen, dann kann man sich mit dem sprachlichen Experiment arrangieren.
Die Bezugnahme auf frühere Zeiten und literarische Quellen bis hin zu Homers Ilias und Dantes Divina Commedia stellen die Verbindung zur Menschheitsgeschichte und zur Weltliteratur her. Um es vorwegzunehmen, Énards Zone ist trotz mancher Bedenken ein höchst lesenswertes Buch, ein Anekdotengeflecht geschehener Grausamkeiten. Dichtung und Wahrheit vermischen sich im Dahingleiten des Zugs von Mailand nach Rom zur Bestandsaufnahme des französischen Agenten Francis Mirkovic, alias Yves Deroy. Mit sich führt er einen Koffer mit Listen von Kriegsverbrechern, Waffenhändlern und Terroristen, die er dem Vatikan zum Kauf anbieten will. Warum ausgerechnet dem Vatikan? Darauf bleibt der Autor die Antwort schuldig, muss sie auch gar nicht geben, da das Geschäft letztlich nicht getätigt wird. Doch die Phantasie des Lesers geht eigene Wege. Er denkt an die Geheimarchive der Kurie, wo seit Jahrhunderten Berichte von christlichen Gräueltaten lagern. Francis Mirkovic’ Material könnte sich wie eine Fortsetzung der Inquisitionstribunale lesen.
Pavelic, „der große Sammler von serbischen Augen und Ohren„ („…in seinem Büro stand ein Korb voller Muscheln, die Malaparte für dalmatische Austern hielt, von wegen Austern, gab Pavelic zurück, es handelt sich um ein Geschenk meiner Ustaschi, vierzig Pfund menschliche Augen, von triefender glasiger Beschaffenheit, halb zerdrückt die einen unter den anderen, hundert serbische Augen als Geschenk für den Chef des triumphierenden Vaterlands…“), der Selbstmord des russischen Dichters Jessenin, vielleicht gar kein Selbstmord gewesen, die Auschwitztransporte der auf Rhodos ansässigen Juden, einige Jahrhunderte Zufluchtsort für die aus Spanien 1492 Vertriebenen, der Kampf der Palästinenser gegen Israel (hier könnte das Gleichgewicht des literarisch aufgearbeiteten Schreckens kippen) und schließlich der in Santa Cruz de la Sierra in Bolivien als Sohn eines jüdisch-ungarischen Kommunisten und Widerstandskämpfers sowie einer wohlhabenden Bolivianerin geborene Eduardo Rózsa-Flores – all diese Schilderungen lassen den Eindruck entstehen, dass hinter dem oft anekdotisch Anmutenden des Romans Dokumentarisches steht, das zu Anekdotischem verfremdet wird. An der Gestalt Eduardo Rózsas jedenfalls, des „Schlächters der Serben„, des Anführers des internationalen Freiwilligenkorps im Krieg der Kroaten gegen die Serben, ist so gut wie nichts erfunden. Von Bolivien über Schweden war der 1960 Geborene in den siebziger Jahren nach Ungarn gelangt. Einst glühender Verehrer Che Guevaras machten ihn die persönlichen Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus zum Renegaten. Als „Jude“ stampfte er das kroatische Freiwilligenkorps, dem sich auch der Autor Mathias Énard angeschlossen hatte, aus dem Boden. Nach einer Karriere als Spion für verschiedene Geheimdienste, als Schriftsteller, Schauspieler und Konvertit zum Islam wird er unter bis heute ungeklärten Umständen wegen eines angeblich geplanten Umsturzversuchs in Bolivien am 16. April 2009 von Sicherheitskräften der bolivianischen Regierung in einem Hotel in Santa Cruz erschossen.
Mathias Énard, der zurzeit in Barcelona Arabisch lehrt, kann sicher nicht auf ein ganz so abenteuerliches Leben zurückblicken wie Eduardo Rózsa-Flores, einer seiner Protagonisten. Dafür aber darf er sich rühmen, einmaliges Material der Geschichte des Mittelmeerraums gesammelt und literarisch aufgearbeitet zu haben.
Mathias Énard – Zone
Roman, Berlin Verlag 2010
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
589 Seiten