Immer die beste Reaktion auf einen Angriff im Visier
„Aggressiver, Aggressiver!“, fordert Leung Ting, weltweit einziger Träger des 10. Wing Tsun-Großmeistergrades und lässt seinen rechten Oberarm mit einer schneidenden Bewegung vor seinem Körper einen angenommenen Schlag des Gegners in seine Magengegend abwehren. „Chop!“, begleitet er die Bewegung lautmalerisch und führt sie gleich noch einige Male aus. „Chop, chop!“. Dann sind bis zur nächsten Korrektur durch den chinesischen Großmeister wieder die etwa 300 Schüler in einer Turnhalle in Kecskemét an der Reihe.
Wing Tsun-Großmeister Leung Ting: „Ich bin mit dem Niveau der ungarischen Wing Tsun-Ausbildung sehr zufrieden.”
Das im Dezember stattgefundene Training ist der jährliche Höhepunkt der ungarischen Wing Tsun-Bewegung. Gegründet wurde sie als Ableger der International Wing Tsun Association (ITWA) vor etwas mehr als 25 Jahren von dem Ungarn Norbert Máday, den seine Schüler nach alter chinesischer Tradition ehrerbietig Sifu, Vater, nennen. Inzwischen ist die ungarische ITWA-Sektion auf rund tausend Mitglieder angewachsen. Darunter sind auch zahlreiche Kinder, Frauen und ältere Menschen. Dies hat unter anderem damit zu tun, dass die Kung Fu-Variante Wing Tsun praktisch von jedem erlernt und praktiziert werden kann. Besondere sportliche Befähigung oder körperliche Stärke ist nicht nötig.
„Bei Wing Tsun geht es um einen möglichst effizienten Kräfteeinsatz.”
Wing Tsun hilft den Schwächeren, sich gegen Stärkere zu verteidigen
Wing Tsun wurde ursprünglich entwickelt, damit sich Schwächere gegen körperlich überlegene Angreifer verteidigen können. Daher liegt die Betonung bei dieser Kampfsportart auch nicht auf brachialer Kraft wie beim Boxen oder Karate, sondern auf dem optimalen Reagieren auf Angriffe einschließlich möglichst zeitgleich verlaufener Gegenangriffe. Statt um reine Muskelkraft geht es beim Wing Tsun viel um Physik, um richtige Winkel, um nutzbare Hebeleffekte und immer wieder um einen stabilen Stand. Unter Berücksichtigung all dieser und weiterer Aspekte gilt es, auf vorgetragene Angriffe des Gegners stets die jeweils effizienteste Reaktion zu finden. Und das möglichst in Bruchteilen einer Sekunde.
Das ist nur unter Umgehung des Gehirns und unter Nutzung der im Wing Tsun sogenannten Hautsicht, also der Verwendung des Tastsinns möglich. Eine weitere Grundvoraussetzung für ein optimales Reagieren ist, dass die nicht sehr zahlreichen Grundbewegungen korrekt eintrainiert sind und fest sitzen. Eben dafür ist ihr ständiges Wiederholen unabdingbar, solange bis sie auch im letzten Detail stimmen. Auch in Kecskemét wurde sich unter dem kritischen Blick des Großmeisters nur auf einige wenige Grundübungen konzentriert. Dafür wurden diese aber umso gründlicher einstudiert.
Nebenbei erhielten die Teilnehmer zugleich auch einen Eindruck der in China praktizierten Unterrichtsmethoden. Während beim Training mit einem ungarischen Trainer nicht zuletzt zwecks Abwechslung und dem Ausruhen gerade beanspruchter Körperteile die Übung etwa alle 15-20 Minuten gewechselt wird, bestand der chinesische Großmeister in Kecskemét darauf, allein die oben beschriebene Bewegung etwa eine Stunde zu üben. Immer wieder fand er bei dieser für einen Außenstehenden eher simpel aussehenden Bewegung etwas auszusetzen, unterbrach und korrigierte.
In einer Übungsphase der Teilnehmer gewährte er der Budapester Zeitung ein kurzes Interview. „Ich bin mit den ungarischen Wing Tsun-Aktivisten und dem Niveau der hiesigen Ausbildung sehr zufrieden“, erklärt er eingangs sichtlich zufrieden. Daher komme er inzwischen auch nur noch jährlich einmal nach Ungarn. Auch die Entwicklung der ungarischen Sektion finde er „völlig akzeptabel“. Nicht zuletzt wegen ihrer Treue gegenüber der von ihm vertretenen Wing Tsun-Methode. In Ungarn würden sich Entwicklungen voll im Rahmen des vorgegebenen Systems vollziehen. Die Gefahr einer Verselbstständigung wie in anderen Ländern, etwa in Deutschland, sehe er in Ungarn nicht.
Die Grundideen des Wing Tsun blieben stets erhalten
Angesprochen auf generelle Entwicklungen seiner Wing Tsun-Schule holt er etwas aus: „Vor mir wurde Wing Tsun immer sehr geheim gehalten. Es gab keine öffentlichen Schulen. Die Lehrer suchten sich ihre Schüler selbst aus oder sie kamen auf Grund von Empfehlungen. Zu meinem ersten Sifu kam ich im Alter von 13 Jahren über einen meiner Onkel. Als ich an meiner Universität in Hongkong dann die erste öffentliche Wing Tsun-Schule gründete, änderte sich vieles. Vor allem den Unterrichtsstil musste ich ändern. Hätte ich im traditionellen Stil fortgesetzt, hätte ich nicht mehr als zehn Schüler unterrichten können. Änderungen gab es auch am System. So wurden etwa Uniformen eingeführt und feste Übungszeiten.“
Ob sich auch an der Technik etwas geändert habe, wollten wir wissen. „Nein, die Hauptidee blieb stets unverändert. Lediglich im Detail gab es einige Entwicklungen, nicht zuletzt in Reaktion auf die Berührung mit anderen Kampfsportarten. Als Wing Tsun im Inneren Chinas entwickelt wurde, gab es so gut wie keine Berührung mit anderen Kampfsportarten wie Karate, Taekwondo, Thai Boxen oder Judo. Das änderte sich, als ich in Hongkong zu unterrichten begann. Das Aufeinandertreffen mit anderen Kampfsportarten beeinflusste auch Wing Tsun.“ In Reaktion darauf mussten etwa neue Techniken entwickelt werden, um die Überlegenheit von Wing Tsun weiterhin zu garantieren. „Die Grundideen des Wing Tsun blieben jedoch stets unverändert“, betont Leung Ting nochmals.
Wing Tsun sei für ihn aber nicht nur Technik und Sport, sondern auch Philosophie. Insbesondere verweist der Großmeister immer wieder auf die engen Wechselbeziehungen zum Taoismus. „Der Taoismus lehrt die Menschen zu überleben. Das hat er mit Wing Tsun gemeinsam.“ Eine weitere Gemeinsamkeit sehe er auch in der hohen Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit. Gemeinsam seien beiden Systemen auch viele Grundprinzipien, etwa sich nicht frontal gegen eine Kraft zu stellen, sondern gemeinsam mit ihr, unter Ausnutzung der ihr innewohnenden Kräfte seine Ziele zu erreichen. „Wasser fließt immer nach unten, nie nach oben. Es kann das stärkste Haus zerstören.“
Den Kampf beenden, bevor er begonnen hat
Ebenso wichtig wie die Berücksichtigung allgemeiner philosophischer Grundprinzipien seien aber auch Erkenntnisse der Wissenschaft, in erster Linie der Physik. „Bei Wing Tsun geht es um einen möglichst effizienten Einsatz von Kräften. Dabei ist viel Physik im Spiel. Wer um die potenziellen Kraft seiner Arme und Beine weiß, wird sie viel zielgerichteter einsetzen.“ Schließlich geht es beim Wing Tsun auch um Ausstrahlung. „Wer Wing Tsun beherrscht, strahlt Selbstvertrauen aus. Allein das genügt, um Gegner abzuschrecken und einen Kampf zu beenden, bevor er begonnen hat.“ Nicht zuletzt deswegen empfiehlt er Wing Tsun Kindern, die auf dem Schulhof vor gewaltsamen Mitschülern in Ruhe gelassen werden wollen.
“Wenn Du heute arm bist, kannst Du morgen reich sein”
Bei der Frage nach der Zukunft Chinas in der Welt gibt sich Leung Ting ganz als Philosoph – selbiges studierte er übrigens in Hongkong. „Es hat seine Gründe, warum einige Länder reich und andere arm sind. In erster Linie hat es etwas mit dem Fleiß seiner Bürger zu tun. Schauen Sie sich einmal an, wo überall Made in China draufsteht. Unser Land ist dank des Fleißes seiner Bürger inzwischen zur internationalen Werkbank geworden.“ Gleichzeitig ist er sich aber auch über die Konsequenzen dieses Fleißes im Klaren. „Mit zunehmendem Reichtum werden auch die Chinesen ebenso wie heute die Amerikaner und Europäer immer bequemer und fauler. Dann wird eines Tages auch der Stern von China wieder sinken und andere Länder oder Regionen werden an seine Stelle treten.“ Letztendlich würden sich alle Dinge ständig ändern: „Wenn Du heute arm bist, kannst Du morgen reich sein. Wenn Du dann aber faul wirst, wirst Du bald wieder arm sein“ Ein ständiges Auf und Ab. Alles müsse langfristig gesehen werden.