Premier Orbán: „Wir müssen mit unserem eigenen Kopf denken!“
Was das politische Leben in Ungarn angeht, stand in der vergangenen Woche eine Person im Brennpunkt des Geschehens: Ministerpräsident Viktor Orbán. Dieser war am vergangenen Freitag zunächst Teilnehmer des Sitzungsmarathons der europäischen Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in Brüssel, am Tag darauf traf er sich mit Noch-Infrastrukturminister Tamás Fellegi, um dessen Rücktritt und weitere Zukunft in der Regierung zu erörtern, am Montag hielt er eine vielbeachtete Rede im Parlament, die den EU-Gipfel und das Budget 2012 zum Inhalt hatte, am Dienstag referierte er vor den Mitgliedern der Széll-Kálmán-Stiftung über die ungarischen Wirtschafts- und Haushaltsaussichten, am Mittwoch schließ-lich weilte er unter anderen mit Volkswirtschaftsminister György Matolcsy in der westungarischen Stadt Sopron, um das Budget für das kommende Jahr noch einmal den geänderten wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen.
EU-Vertrag schränkt nationale Souveränität ein
Ministerpräsident Orbán erklärte am Montag im Parlament, dass der neue EU-Vertrag, der sogenannte Euro-Plus-Pakt, die Frage der nationalen Souveränität maßgeblich einschränke, entziehe er doch den nationalen Parlamenten Befugnisse. Durch den Pakt habe die EU-Kommission die Möglichkeit, die Haushaltspolitik der Mitgliedsländer mitzugestalten, etwa bei der Bestimmung des Defizitziels.
Orbán sagte, dass das Land ernsthaft überlegen müsse, wie es zum neuen Vertrag stehe. Deshalb habe er den parlamentarischen Ausschuss für EU-Fragen gebeten, eine Parlamentsdebatte über den Inhalt des jüngsten EU-Gipfels vorzubereiten. Der Ministerpräsident schlug den ungarischen Parlamentsabgeordneten zudem vor, den Standpunkt Großbritanniens in Sachen Euro-Plus-Pakt unter die Lupe zu nehmen.
Großbritannien war das einzige Mitgliedsland der EU, das beim Brüsseler EU-Gipfel in der Person von Premier David Cameron ein Veto gegen eine Haushaltsunion eingelegt hatte. Die Staats- und Regierungschefs von drei weiteren Staaten äußerten Vorbehalte: Schweden, Tschechien und eben auch Ungarn. Viktor Orbán hatte im Anschluss an den EU-Gipfel gesagt, dass eine Beteiligung Ungarns an einer Haushaltsunion vom ungarischen Parlament entschieden werden müsse, er selbst sehe sich dazu vom Souverän nicht ermächtigt. Die linksliberale Opposition und die ihr nahe stehenden Medien hatten dies prompt als „Nein“ Orbáns gewertet und den Premier mit Kritik überschüttet.
Viktor Orbán betonte im weiteren Verlauf seiner Parlamentsrede, dass das Land mit seinem eigenen und nicht mit dem Kopf anderer denken müsse. Ziel der Regierung sei es, Ungarn zu einem Land zu machen, das in der EU „das sicherste wirtschaftliche Umfeld gewährleistet“. Der Premier fügte dem hinzu, dass Ungarn dazu imstande sei, jedoch müsste das Land große Hindernisse überwinden. Als größtes Hindernis bezeichnete er die Fehler der Vergangenheit, die riesigen Schulden, die von den linksliberalen Vorgängerregierungen (2002-2010) aufgehäuft worden seien, die Arbeitslosigkeit und den Rückfall des Bruttoinlandsproduktes.
Orbán sagte, dass seine Regierung bei der „Erneuerung des Landes“ drei Grundsätze befolge. Erstens: Die Lasten müssten zwischen dem Staat, Geschäftssektor und den Familien aufgeteilt werden. Zweitens: Der Mittelstand müsse gestärkt werden. Drittens: Der Staat müsse umgekrempelt werden, was weniger Bürokratie, ein sinnvolleres Regional- und Gesundheitssystem, ein niveauvolleres Bildungswesen, ein dauerhaft tragfähiges Rentensystem, ein Sozialsystem, das den sozialen Anschluss fördert und ein stabiles Justizwesen bedeute.
Orbán erklärte zudem, dass Ungarn zum Zwecke der Verteidigung gegen die Eurokrise ein Finanz-Sicherheitsnetz spannen müsse. Orbán sagte im Parlament dazu wörtlich: „Ich kann Ihnen hierbei keine bessere Lösung bieten, als ein mit dem IWF zu schließendes Sicherheitsabkommen.“
Bei seiner Rede ging Regierungschef Orbán auch auf den Minister für Nationale Infrastrukturentwicklung, Tamás Fellegi, ein. Fellegi hatte am vergangenen Donnerstag seinen Rücktritt als Minister mit der Begründung erklärt, seine ministerielle Agenda mit den Aufgaben als Chefverhandler der ungarischen Delegation bei den bevorstehenden Verhandlungen mit dem IWF über ein vorsorgliches Kreditabkommen nicht vereinbaren zu können. Orbán sagte am Montag, dass er am Samstag zuvor eine Unterredung mit Fellegi geführt und ihn seiner Verantwortung als Infrastrukturminister entbunden habe. Als Chefverhandler bei den IWF-Verhandlungen hat Fellegi nunmehr den Status „Minister ohne Portefeuille“ inne. Den Posten des Infrastrukturministers übernahm interimistisch János Fónagy, der bislang Staatssekretär unter Fellegi war. Ein Nachfolger für Fellegi soll noch bis Ende dieses Jahres gefunden werden.
Am Dienstagabend wurde auf dem Nachrichtensender HírTV eine Rede von Viktor Orbán gezeigt, die er vor Mitgliedern der Széll Kálmán Stiftung gehalten hatte. Orbán bekräftigte dort einmal mehr, dass die Staatsverschuldung gesenkt und der Wirtschaftsmotor des Landes angekurbelt werden müsse. Der Premier betonte, dass eine Wachstumsstrategie ins Werk gesetzt werden müsse, die auf den Eigentümlichkeiten und besonderen Ressourcen des Landes aufbaue. Orbán sagte dazu wörtlich: „Vielleicht enttäusche ich jemanden, doch bin ich der Meinung, dass es heute keine internationale Wachstumsstrategie, sondern nur nationale Wachstumsstrategien gibt.“
Der Ministerpräsident erklärte, dass das Wachstum im kommenden Jahr drei Dimensionen haben werde: Finanzierung, Produktion und das Anlocken von Auslandsinvestoren. In Sachen Finanzierung sagte er, dass die Verhandlungen zwischen Regierung und Bankenverband positiv stimmen würden, so sei es durchaus vorstellbar, dass die Banken sich an der Finanzierung der Wirtschaft im nächsten Jahr beteiligen werden. Mit Blick auf die Produktion hob der Ministerpräsident die Bereiche Industrieentwicklung und Landwirtschaft hervor, im Hinblick auf die Auslandsinvestoren betonte er, dass es kein Wirtschaftswachstum ohne Erstarken des ausländischen Kapitals gebe.
Wie Orbán bei der Rede sagte, werden die Sondersteuern Ende 2012 definitiv abgeschafft, die Bankensteuer wiederum wird auf das europäische Durchschnittsniveau dieser Steuerform gesenkt, was etwa der Hälfte des heutigen Niveaus entspreche. Der Premier betonte darüber hinaus, dass er eine Wirtschaftspolitik, die den Mittelstand stärke, durchaus als moralisch vertretbar betrachte. Diesbezüglich sagte er, dass 2011 1,28 Billionen Forint unversteuert bei den „Unternehmen, in der Wirtschaft und bei den Familien“ geblieben seien. 2012 werde sich diese Summe sogar auf 1,4 Billionen Forint belaufen, sagte Orbán. Dies sei in der ungarischen Wirtschaftsgeschichte beispiellos.
Am Donnerstag schließlich stand ausnahmsweise nicht Viktor Orbán im Schlaglicht der Öffentlichkeit, sondern Volkswirtschaftsminister Matolcsy, der nach dem „Budget-Gipfel“ am Mittwoch in Sopron die Korrekturen am Budgetentwurf für 2012 präsentierte. Matolcsy betonte dabei, dass das Defizitziel in Höhe von 2,5 Prozent des BIP gehalten werden könne. Der Minister erklärte, dass der Haushalt 2012 bei einem Euro-Forint-Wechselkurs von 299 Forint neu aufgestellt worden sei. Die Regierung kalkuliere überdies mit einem Wirtschaftswachstum von 0,5 statt bisher 1,5 Prozent. „Die zwei Dinge machen zusammen rund 320 Milliarden Forint aus. 200 Milliarden Forint haben wir im Fonds für Landesschutz gefunden. Die restliche Summe wollen wir mit drei Maßnahmen decken“, sagte Matolcsy. Erstens: Es werde eine budgetäre Reservebildung in Höhe von 52 Milliarden vollzogen, die mehrere Ministerien betreffe. Zweitens: Diejenigen, die in den obligatorischen Privatrentenkassen geblieben sind, würden ihre monatlichen Einzahlungen ein Jahr lang in die Staatskasse überweisen, was rund 48 Milliarden Forint seien. Als dritter Schritt wird die Besteuerung von Tabakwaren um etwa 20 Milliarden Forint angehoben, so Volkswirtschaftsminister Matolcsy. Der Haushalt 2012 wird voraussichtlich am letzten Sitzungstag des Parlaments in diesem Jahr am 23. Dezember verabschiedet.