„Mäuse gibt es immer nur bei Tesco“
In letzter Zeit ist eine wundersame Bedeutungsveränderung der Begriffe „multinationales Unternehmen“ und „ausländischer Investor“ zu beobachten. Während der erste Begriff, besonders in seiner Verkürzung „Multi“ in Ungarn inzwischen fast schon zum Schimpfwort mutiert ist und überwiegend in negativem Zusammenhang, etwa für die großen Hypermarktketten verwendet wird, versteht die ungarische Öffentlichkeit unter dem zweiten Begriff vor allem die produzierenden Auslandsinvestoren, also etwas, das für Ungarn eher als positiv angesehen wird.
Ex-Wirtschaftsminister Chikán:
„Wer Multi sagt, sagt nichts.“
Vor diesem verwirrenden Begriffshintergrund organisierte die Wirtschaftstageszeitung Világgazdaság letzte Woche in Kooperation mit einigen EU-Kammern eine Konferenz unter dem provokativen Titel „Ohne Multis geht es nicht“. Im Prinzip hätten die Veranstalter auch titeln können „Sind die Multis wirklich so schlecht wie ihr Ruf?“, denn darum ging es letztendlich. Erschwert wurde die Behandlung des Themas dann aber durch eine unterlassene Differenzierung und begriffliche Klarstellung. Ob denn auch das Speditionsunternehmen Waberers oder der ungarische Pharmariese Richter Gedeon Multis seien, brachte ein Fragesteller aus dem Publikum das Begriffsdilemma auf den Punkt. „Wenn jemand Multi sagt, dann sagt er nichts“, wurde einer der Referenten, der ehemalige Wirtschaftsminister der ersten Orbán-Regierung, Attila Chikán, noch deutlicher.
Aber selbst wenn ungarische Multis ausgeblendet werden, ist die Lage kaum klarer. So wies etwa Chikán darauf hin, dass allgemeine Aussagen hinsichtlich der Wirkung multinationaler Unternehmen auf die ungarische Volkswirtschaft schlichtweg unmöglich seien, da sich die einzelnen Branchen diesbezüglich deutlich unterscheiden würden. Immerhin gestand er aber selbst den ausländischen Einzelhändlern zu, eine durchaus positive Wirkung auf ihr Gastland ausgeübt zu haben, da sie wesentlich zur Modernisierung des Handels und der Handelsstrukturen beigetragen hätten. Insbesondere Produktivinvestoren hätten sich durch einen Transfer von Kapital, Knowhow und Arbeitskultur sowie der Schaffung von modernen Arbeitsplätzen Meriten erworben. Allerdings verschloss Chikán, der in seiner Eigenschaft als Direktor des Forschungsinstituts für Wettbewerbsfähigkeit soeben eine umfangreiche Studie zu den Effekten der ausländischen Investitionen veröffentlicht hat, auch vor den negativen Konsequenzen nicht die Augen.
Konkret nannte er die Verdrängung ungarischer Unternehmen und damit die Vernichtung von Arbeitsplätzen sowie die durch Konzentrationsprozesse verursachte Verringerung des Wettbewerbs sowohl auf der Anbieter- als auch auf der Einkaufsseite. Hier berührte er einen Punkt, der auch in weiteren Vorträgen und bei Fragen aus dem Publikum immer wieder zutage trat, konkret die Unterstellung, dass insbesondere die großen internationalen Einzelhandelsketten die ungarischen Erzeuger über ihre Auswahl- und Preispolitik an den Bettelstab brächten. „Es ist schön bei Tesco gelistet zu sein, aber seit 2008 mache ich hier praktisch kein Geschäft mehr“, verwies etwa ein weiterer Referent, der Agrarunternehmer György Raskó auf seine persönlichen Erfahrungen. Außerdem kritisierte er, dass die Preisdrückerei inzwischen schon so weit gehe, dass internationale Einzelhandelsketten in Ungarn bei Lebensmitteln eine, verglichen mit den Angeboten in Österreich minderwertigere Qualität in die Regale bringen würden.
Korrekte und zuverlässige Multis
Auf der anderen Seite aber lobte Raskó die „Multis“ auch für deren Zuverlässigkeit und ihr korrektes Einhalten von Verträgen. „Ich verkaufe lieber an Multis als an ungarische Firmen“, stellte er fest. Die Lage ist also auch für einen Betroffenen alles andere als eindeutig. Ein Teilnehmer aus dem Publikum stellte gar die Hypothese auf, dass der vermehrte Unmut über die Multis teilweise hausgemacht sei und vom Frust abgeblitzter Lieferanten herrühre. Weil die Einkäufer bei den Multis in Folge der Krise mehr Angst um ihren Job hätten, würden sie Bestechungsversuchen nicht mehr so leicht nachgeben wie zuvor. Es wurden noch weitere ähnliche Erklärungsversuche für das angekratzte Image der „Multis“ in Ungarn geboten. Einig waren sich alle jedoch darin, dass auch die Regierung („Sündenbockfunktion“) und der willfährige Teil der Medien einen gewichtigen Anteil daran hätten. „Mäuse werden von den Medien immer nur bei Tesco gesehen“, spitzte etwa ein Teilnehmer die unausgewogene Berichterstattung in einigen Medien ironisch zu.