„Die Kinder bekommen hier eine neue Familie“
Am 24. November feiert das Theaterprojekt AHA sein zehnjähriges Jubiläum. Was durch Zufall begann, bietet Kindern und Erwachsenen heute die Möglichkeit, völlig neue Perspektiven zu erleben.

Regisseur „Fecske“ bei der Arbeit: Seit zehn Jahren ist er Herz, Seele und Kopf des Theaterprojekts.
Sándor Füsti Molnár sieht auf den ersten Blick nicht aus wie ein Schöngeist. Wirres Haupthaar, Cargo-Weste und an jedem Finger ein massiver Ring. Man kann ihn sich eher in einer Rockerkneipe als auf einem Regiestuhl vorstellen. Trotzdem ist Sándor, genannt Fecske (Schwalbe), seit zehn Jahren die Seele des AHA-Theaterprojekts.
Von Vorurteilen und Freundschaften
Vor zehn Jahren überlegten sich die Mitarbeiter der Sozialstation des Roten Kreuzes in Újpest, für ihre Klienten ein kleines Stück zu Weihnachten zu inszenieren. „Allerdings fehlte uns eine männliche Sprechrolle“, erklärt Fecske lächelnd. Diese habe dann einer der Klienten der Sozialstation übernommen. „Und schon war das Projekt geboren.“
Schon im ersten Jahr war ein Kind mit auf der Bühne. Fecske geht zurück zu den Anfängen des Projekts: „Meine Tochter Enik? war damals sieben Jahre alt. Sie hatte nicht mal eine Sprechrolle, sondern kam einfach nur auf die Bühne. Aber die Chemie zwischen ihr und den Schauspielern war einfach so gut, dass wir ab da beschlossen haben, auch mit Kindern zu arbeiten.“
Da Fecskes Tochter dort zur Schule ging, wandte er sich vertrauensvoll an die Sebestyen Musikgrundschule Pécs. „Zuerst dachte ich, die Eltern hätten Vorbehalte mit einer Sozialstation zusammenzuarbeiten. Aber ganz im Gegenteil!“ Lächelnd erinnert sich Fecske daran, wie überwältigt er von der Offenheit und der Kooperationsbereitschaft der Eltern war.
2003 brachte Fecske die erste gemeinsame Produktion auf die Bühne. Ein ungarischer Klassiker von Mór Jókai mit dem Titel „Melyiket a 9 közül?“ (Welchen von den 9?) war das erste gemeinsame Stück von Klienten der Sozialstation und den Schülern der Musikschule. „Insgesamt elf Schüler nahmen am Projekt teil, wobei sich die Klienten und Kinder anfangs noch vorsichtig gegenüberstanden“, berichtet Fecske. Doch keine halbe Stunde später war das Eis gebrochen und die Stimmung gelöst. Die Kinder hätten aus dieser Zeit unheimlich viel mitgenommen, so seien „intensive Freundschaften entstanden, die bis heute halten“. Inzwischen sind die Kinder von damals junge Erwachsene geworden, was unweigerlich dazu geführt hat, dass der Kontakt zur Musikschule etwas eingeschlafen ist. Fecske würde die Darsteller von damals gerne befragen, welche Erinnerungen und Erfahrungen sie behalten haben. „Aber ich gehe fest davon aus, dass es durchwegs positive Erinnerungen sind“, sagt Fecske.
Arbeit mit Kindern intensiviert
Die AHA-Guppe arbeitete und arbeitet neben den Kindern der Pécser Schule auch mit Kindern aus Budapest. So gab es im Jahr 2009 eine Kooperation mit der Stiftung Menedékház. Die dort lebenden Kinder führten gemeinsam mit den Kindern des AHA-Projekts unter Fecskes Anleitung zwei kleine Stücke auf, „Télapó az erd?ben“ (Der Weihnachtsmann im Wald) sowie ein eigenes Stück. „Wir probten sowohl bei uns in der Madridi utca als auch in Budaörs im Menedékház.“ Allerdings sei es oft sehr schwer gewesen, einen gemeinsamen Probentermin zu finden. „Doch am Ende war es ein großer Erfolg. Alle Beteiligten und Zuschauer waren vom Ergebnis begeistert“, erzählt Fecske nicht ohne Stolz.
Derzeit arbeiten Fecske und seine „rechte Hand“, Anikó Berényi, mit Kindern aus dem Kossuth-Kinderheim. Anikó erinnert sich: „Eines der Kinder aus der Kooperation mit dem Menedékház war so begeistert von unserer gemeinsamen Arbeit, dass es danach bei uns blieb.“ Es bekam dann auch kurz nach Ende der Produktion einen Platz im Kossuth-Kinderheim. „So entstand der Kontakt zum Kinderheim, und nun arbeiten wir mit neun Kindern zwischen drei und 16 Jahren aus dem Heim“, sagt Anikó. Dieses Jahr wird wieder das Jókai-Stück inszeniert. „So schließen wir einerseits einen dramaturgischen Kreis zum Beginn unseres Projekts und außerdem mag ich das Stück“, sagt Fecske lachend.

Die Truppe spielte auch schon vor dem Papst.
Für die Zukunft arbeiten
Doch die Zukunft des AHA-Projekts ist noch ungewiss. „Momentan sieht es so aus, dass es keine Ausschreibungen gibt, an denen wir teilnehmen und Geld gewinnen könnten“, fasst Fecske die Situation zusammen. „Unser ‚Betreiber‘ ist das Budapester Ungarische Rote Kreuz (RK), aber auch seine Mittel sind sehr begrenzt“. Anikó und Fecske wissen jedoch, dass das Rote Kreuz gerne mehr für sie tun würde: „Wir werden zwar nicht durch Geldmittel, dafür aber mit einem Raum für die Proben unterstützt, wir können das Auto des RK benutzen und auch unsere Telefone werden vom RK bezahlt. Das hilft uns bereits viel.“
Anikó kam als Praktikantin im Rahmen ihres Studiums zum Projekt, Fecske ist Sozialarbeiter beim Roten Kreuz. Die beiden verbindet das Projekt und eine gemeinsame Vergangenheit. Anikó erinnert sich: „Noch bevor ich zum Theaterprojekt kam, hatte ich einen schlimmen Streit mit Fecske, worum es ging, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich ihm nie im Leben noch einmal begegnen wollte.“ Als sie dann im Rahmen ihres Studiums für ihre Praxisstunden in die Sozialstation kam, wurde sie auf Anhieb Fecske zugeteilt. „Ich fürchtete, dass ich ihn erschlagen würde. Aber das Projekt hat mich so fasziniert, dass aller Streit vergessen war.“ Bis Ende Oktober war Anikó als künstlerische Assistentin über Ausschreibungsgelder bei Fecske, „jetzt mache ich das als Freiwillige weiter.“ Auch Fecske arbeitet inzwischen nur noch für einen symbolischen Betrag. „Aber was wir tun, tun wir aus Überzeugung. Und es sind die kleinen Erfolge, die einem die Kraft zum Weitermachen geben“, sind sich beide einig.
Klassifizierte Qualität
Doch gibt es auch fassbare Erfolge in Anikós und Fecskes Arbeit. So besteht in Ungarn die Möglichkeit, dass Laienspielgruppen ihre Stücke klassifizieren lassen. Erreichen sie Bronzestandard, bedeutet dies, dass sie innerhalb Budapests oder des entsprechenden Komitats in staatlichen Theatern auftreten dürfen. Der Silberstandard berechtigt landesweit dazu, bei einer Gold-Klassifizierung werden auch internationale Auftritte unterstützt. Stolz berichtet Fecske: „Bisher haben neun unserer bisher inszenierten Stücke Bronze- oder Silberstatus bekommen.“ Doch auch dazu wurde Fecske eher von außen angestoßen. Ihm selbst sei die Idee anfangs nicht gekommen.
Auch nimmt die Gruppe jährlich an verschiedenen Festivals teil und auch einen Auftritt vor Papst Benedict XVI. kann die Truppe von AHA mittlerweile vorweisen. Doch dies sind nicht die vorrangingen Interessen des Projekts. „Wir wollen den Kindern vor allem vermitteln, dass sie zu uns wie zu ihrer Familie kommen können, wir wollen ihnen ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln.“ Dass dies sehr gut funktioniert, zeigt sich daran, dass Anikó auch jenseits des Theaterprojekts für „ihre“ Kinder da ist: „Einige von ihnen rufen mich mehrmals wöchentlich an, um mir zu erzählen, wie es in der Schule läuft, oder um mir ihre Sorgen mitzuteilen“. Die Kinder erhalten bei AHA die Möglichkeit, sich zu öffnen und sich einen Platz zu schaffen, an dem sie Neues ausprobieren und neue Blickwinkel entdecken können. „Wir bieten den Kindern die Möglichkeit, neue Erfahrungen zu sammeln“, fassen Anikó und Fecske ihre Arbeit zusammen.
