Die Liebe in den Zeiten des Übergangs
Was erzählbar wird, ist überwunden. Das legt biographische Parallelen zwischen Autor und Protagonisten nahe – wenngleich nicht anzunehmen ist, dass Leo Kleinschmidt eigentlich Hans-Henning Paetzke heißen könnte. Nein – dieses Ich ist trotz biographischer Analogien eine erfundene Gestalt, und so wollen wir uns auch an sie annähern.
Wenn der Roman also keine leicht verfremdete Autobiographie ist – was ist er dann? Vielleicht ein Liebesroman? Oder ein Familienroman? Oder ein Zeitgeschichtsroman über die dramatischen Jahre zwischen 1989 und 1994? Ich denke: von allem ein wenig.
Liebe wie eine Naturgewalt
Diese Multifunktionalität erschließt sich dem Leser nur allmählich. Zunächst wird die Handlung (dargeboten vorwiegend in Form des Briefromans) von einer Liebesbeziehung zwischen dem Deutschen Leo Kleinschmidt, einem Lyriker, Übersetzer und Nachdichter (sic!) und der Polin Teresa bestimmt, die ebenfalls dieser Profession nachgeht. Kennengelernt hat man sich auf einer Tagung in Deutschland – oder sollte ich besser sagen: Da ist die Liebe über beide gekommen wie eine Naturgewalt? Dieser Eindruck entsteht, liest man die sehnsuchtsvollen Briefe, mit denen die Liebenden qualvolle Phasen des Getrenntseins zwischen zwei Begegnungen überbrücken. Kompositorisch entsteht so eine strukturbildende Klammer, ein Ariadnefaden, der durch die Erzählwelt leitet. Was um die beiden herum vorgeht – dass nämlich Staaten zerfallen, ein eiserner Vorhang sich öffnet –, wird eher beiläufig erwähnt: Es ist den Liebenden nicht wichtig. Und doch stellt es die Voraussetzung dafür dar, dass der Traum von einer gemeinsamen Zukunft geträumt wird, dass man einander besuchen kann; wohnt doch Leo in „Pekunia“, der westdeutschen Bankenmetropole, Teresa in der polnischen Stadt Onesp. Hindernisse auf dem Weg zueinander sind anderer als politischer Art: Leo ist mit der Ungarin Gizella verheiratet, Teresa hat Mann und zwei Kinder in Polen. Aber im siebten Himmel scheint jede Hürde überwindbar. Das gibt man einander schriftlich – oft mehrmals am Tag.
Im Februar 1990 enden plötzlich die Briefzitate. Warum sich die Erzählweise ändert, ist nachvollziehbar: Man kann auch in langen (Leos Budget arg strapazierenden) Telefongesprächen Liebesschwüre austauschen, und irgendwann würde es den Leser vermutlich langweilen, immer wieder zu lesen, was Liebespaare einander zu sagen nicht müde werden. Aber auch die heißeste Liebe muss ihre Bewährungsprobe im Alltag bestehen. Diese Erfahrung bleibt auch Leo und Teresa nicht erspart. In dem Grad, in dem sich die Leidenschaft abkühlt, wächst das Erzähltempo. Das ist ebenso sinnvoll wie die Wahl einer neutralen Erzählinstanz: Die Zeit der Liebesschwüre ist vorbei, und das Erkalten der Gefühle bis hin zur hasserfüllten Konfrontation kann ein Außenstehender besser beschreiben als ein Beteiligter. Der Leser dürfte ohnehin von Anfang an am glücklichen Ausgang der Liaison gezweifelt haben – desto mehr, je realitätsferner die Träume, je leidenschaftlicher die schriftlichen Liebesschwüre ausgefallen sind. Es ist eine alte, aber immer neue Geschichte: Je heftiger die Emphase, desto größer die Enttäuschung. So kann man den Roman ruhig als Exempel dafür lesen, wie blind selbst kluge Menschen im Liebesrausch agieren.
Auch dieser Roman heißt (wie die beiden Vorgängerbände) „Blendwerk“, im Untertitel „Seelenrisse“. Die zeigen sich in der persönlichen Bilanz, die unsere Protagonisten fünf Jahre nach ihrer ersten Begegnung ziehen: Teresa hat sich sowohl von Leo als auch von ihrem zweiten Mann Janusz getrennt. Leo ist von seiner ungarischen Ehefrau ebenfalls geschieden, menschlich enttäuscht und finanziell ruiniert – aber er lernt nach einem „Vortrag an einer siebenbürgischen Universität im Gebirge eine Studentin“ kennen und kann noch „nicht abschätzen, was sich daraus entwickeln“ (S. 271) wird. Vielleicht „da capo al fine“?
Familie als eigener Kosmos
Die Geschichte dieser großen, aber gescheiterten Liebe ist zwar der wesentliche, der strukturbildende Handlungsstrang – aber mit ihm sind zahlreiche Nebenhandlungen verknüpft, die sowohl Handlungsorte wie Figurenensemble erheblich ausweiten. Nennen wir zunächst die Handlungsorte: Deutschland West und Deutschland Ost sowie Polen sind eng mit der Liebesgeschichte verbunden; hinzu kommen aber die Lebensstationen der Familienmitglieder und Freunde – die Sowjetunion, Ungarn, Rumänien, die Türkei sowie (wenn auch nur episodisch) Australien und Israel. Da sowohl Leo als auch Teresa ein sexuelles „Vorleben“ und Kinder aus verschiedenen Beziehungen haben, wird „Familie“ zu einem eigenen Kosmos, dessen Verzweigungen mehr oder weniger ausführlich, bisweilen rückblickend bis ins dritte und vierte Glied dargestellt werden. So dehnt sich auch die Vorgeschichte bis in die dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts aus. Das ist interessant zu lesen und sprengt trotz aller Exotik nicht den Rahmen des Vorstellbaren. Zu dem üppigen Figurenensemble gehören in der „zweiten und dritten Reihe“ interessante, ja exzentrische Gestalten – und vermutlich hat nicht nur der ungarische „Dichter P.“ (György Petri?) ein reales Vorbild. (Aber zu einem Schlüsselroman gehört auch, dass die Schlüssel gut versteckt sind.) Neben Künstlern begegnen wir Menschen, die zwischen den politischen Systemen lavieren oder zerrieben werden. Die Skala reicht vom SS-Offizier bis zum Securitate-Spitzel oder den Personenschützern für SED-Politbüro-Mitglieder. „Seelenrisse“ haben bei diesem doppelten Spiel nicht alle davongetragen. Mimikry funktioniert schließlich in jedem System – „Blendwerk“ eben.
So bekommt der Titel der Romanepop? doppelte Symbolfunktion – zum einen bezieht er sich auf die Liebesblindheit der Protagonisten, zum anderen auf die zahlreichen Methoden der Täuschung und Verblendung. Was im privatesten Bereich stattfinden wird, solange es Menschen gibt, wird auch in immer neuen Formen das politische Leben durchdringen – und Blendern wird es immer wieder gelingen, Menschen zu verführen.
Individuelle Aufnahme
Diese Botschaft dürfte dem Autor die Zustimmung der meisten Leser sichern. Ob er damit auch Verblendeten die Augen öffnen kann, ist schon weniger gewiss. Ein lesenswertes Buch, ein multifunktionaler Roman auch, den jeder Leser ein wenig anders rezipieren wird, weil viele Fragen nur aufgeworfen; nicht aber beantwortet werden – ganz wie im wirklichen Leben. In diesem Sinne: Respekt, Hans-Henning Paetzke!
Elke Mehnert geboren 1940, Germanistin, nach der Wende bis zu ihrer Emeritierung Universitätsrektorin in Zwickau und Chemnitz, arbeitet als Professorin für Deutschsprachige Literatur an der Westböhmischen Universität Pilsen. Sie hat mehrere Schriften zur deutschen und russischen Gegenwartsliteratur veröffentlicht und ist Mitherausgeberin der Reihe „Studien zur Reiseliteratur- und Imagologieforschung“.
Blendwerk III, Seelenrisse
von Hans-Henning Paetzke,
Leipzig, Engelsdorfer Verlag 2011,
278 S.
14,- EUR
Vom übersetzer zum romancier
Es ist kein Wunder, dass Hans-Henning Paetzke Schriftsteller geworden ist, liest sich doch schon sein Lebenslauf wie ein Roman. Geboren wurde der Schriftsteller, Herausgeber und Übersetzer 1943 in Leipzig. Bereits im zarten Alter von 16 Jahren erlebte er, was es bedeutet, sich gegen die DDR-Führung aufzulehnen. Wegen „Verunglimpfung des Staatsoberhaupts der DDR“ wurde er kurz vor Abschluss der zehnten Klasse von sämtlichen Gymnasien Ost-Deutschlands verwiesen, woraufhin er eine dreijährige Ausbildung als Schauspieler begann. Als Schauspielanfänger des Staatlichen Dorftheaters Prenzlau wurde ihm 1963 schließlich fristlos gekündigt, diesmal wegen „Verletzung der Staatsbürgerpflichten“, weil er den Wehrdienst verweigerte hatte. Dafür musste er sogar ins Gefängnis. Wieder entlassen, holte er 1967 an einer Abendschule das Abitur nach und begann ein Studium der Klassischen Philologie in Halle an der Saale. Germanistik und Psychologie kamen später hinzu. Während des Studiums emigrierte er 1968 nach Budapest und zog von hier aus fünf Jahre später in die BRD. In den 80ern erhielt er gleich in zwei Ländern den Status einer Persona non grata: von 1981 bis 1985 war Paetzke in der DDR und von 1985 bis 1988 in Ungarn unerwünscht. Erst 1994 kehrte er nach Budapest zurück und setzte dort seine Arbeit als Autor, Übersetzer (unter anderem von György Konrád, Péter Esterházy, János Pilinszky) sowie als Herausgeber fort. Im Suhrkamp-Verlag sind bisher sein Interviewband „Andersdenkende in Ungarn“ (auch auf Französisch mit einem Vorwort von Yves Montand) und das „Ungarische Lesebuch“ erschienen. 2008 erschien unter dem Untertitel „Versucher und Versuchte“ der zweite Teil seiner Trilogie Blendwerk, 2009 folgte mit „Die gelöste Zunge“ der erste Teil. In diesem Jahr schloss er sie schließlich mit dem besprochenen Band ab. „Zumindest vorläufig“, wie er gegenüber der Budapester Zeitung bemerkte. An Ideen für einen vierten Band würde es ihm zumindest nicht fehlen.