Der richtige Insasse
Timoschenko (Julia Timoschenko war von Januar bis September 2005 und von Dezember 2007 bis März 2010 Premierministerin der Ukraine; Anm. d. Red.) befindet sich seit dem 5. August in Untersuchungshaft, Gyurcsány dagegen (Ferenc Gyurcsány war zwischen September 2004 und April 2009 ungarischer Regierungschef; Anm. d. Red.) ist noch immer auf freiem Fuß. Wir sind also abgehängt worden.
Zwei Zielpersonen des osteuropäischen Volkssports „Ex-Premier-Einsperren”.
Gleichwohl ist es offensichtlich, dass über die Einkerkerung ehemaliger Ministerpräsidenten irgendwelcher ekeliger und aufgeblasener osteuropäischer Staaten in den Hauptabendnachrichten von CNN nur dann ausführlich berichtet wird, wenn dies synchron geschieht. Wir müssen daher erreichen, dass die Gerichte in beiden Ländern am selben Tag ihre Urteile verkünden, obendrein sollten sie ähnlich ausfallen. Es muss streng nach der Logik der Medien vorgegangen werden. Gyurcsány selbst ist nicht besonders fotogen, Timoschenko dafür umso mehr, insbesondere als sie 2005 Ungarn unerwartet einen Besuch abstattete.
Unschuldig leuchtende Rehaugen, Unmengen an goldschimmernden Haaren, ein liebreizendes Lächeln. Es besteht kein Zweifel, dass die Times sie zu den Personen des Jahres, besser: zu den Insassen des Jahres wählen wird, vorausgesetzt natürlich, dass wir mit den Ukrainern Schritt halten. Freunde suchen wir ohnehin nicht mehr im Westen. Von unseren östlichen Nachbarn verkörpert Rumänien ein lupenreines Europäertum, sofern wir es mit unserer gegenwärtigen Situation vergleichen. Die Ukraine hinwieder ist unser Seelenverwandter. Nicht so sehr wie Weißrussland und Usbekistan, doch steht sie uns zumindest sehr nahe. Sie spürt unseren Herzschlag, wir spüren ihren, und wenn es uns gelänge, an einem Strang zu ziehen, könnten wir der internationalen Öffentlichkeit ein Traumpaar präsentieren – in Handschellen und Ketten –, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.
Die Touristen würden in Scharen herbeiströmen, um sich an dem Gefängnis zu ergötzen, in dem Gyurcsány mit den Ketten klirrt. Sodann würden sie in die Ukraine weiterpilgern, um sich auch an Timoschenko sattzusehen. Das Image unserer Länder würde gleißend erstrahlen, und die ungarisch-ukrainische Freundschaft würde weiter an Tiefe gewinnen. Was das Strafmaß angeht, steht es uns fern, Tipps zu geben. Wir möchten dennoch den kanarischen Postbeamten Gabriel March Grandos erwähnen, der 1972 wegen Nichtaustragen von 42.768 Briefen zu insgesamt 384.912 Jahren verurteilt wurde. Wenn wir also neben den Abendnachrichten von CNN auch noch ins Guinness Buch der Rekorde gelangen wollen, ist es angemessen, in den Zeitdimensionen der Erdgeschichte zu denken.
Wenn einige nun denken, dass jemand nicht einfach so zu einer Gefängnisstrafe von 500.000 Jahren verdonnert werden kann, dann rufe ich in Erinnerung, dass dies Osteuropa ist. Lesen wir den Prozess (Franz Kafka; Anm. d. Red.) oder Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk (Jaroslav Hašek; Anm. d. Red.). In strafrechtlicher Hinsicht ist Gyurcsány offenkundig makellos, doch hat dies keinerlei Bedeutung. […] Gyurcsány hat ein großes Massel, dass ihm ein ähnliches Schicksal wiederfährt wie anno dazumal Lajos Batthyány (erster Ministerpräsident Ungarns [17. März bis 2. Oktober 1848], der am 6. Oktober 1849 hingerichtet wurde; Anm. d. Red.) oder Imre Nagy (ungarischer Ministerpräsident während der Revolution 1956, der am 16. Juni 1958 erhängt wurde; Anm. d. Red.), selbst dann, wenn er nicht per Erschießungskommando hingerichtet oder erhängt wird. Er wird zum Opfer eines Schauprozesses, wodurch rückwirkend alles in ein anderes Licht gerät.
Die linksgesinnte Jugend wird rund um den Globus Tausende von Ferenc Gyurcsány Fanclubs gründen, in milden Sommernächten werden sie Mega-Solidaritätskonzerte organisieren und neun Monate später werden sie ihren neugeborenen Kindern den Namen Ferenc Gyurcsány geben. Gyurcsány seinerseits kann endlich sein altes Versprechen einlösen und „verflucht gute Bücher über die moderne ungarische Linke“ (Originalzitat: „kibaszott jó könyveket a modern magyar baloldalról“) schreiben. Er wird also eine tolle Zeit erleben, aber noch toller wird es der modernen ungarischen Linken ergehen. So eine Linke gibt es hierzulande zwar nicht, doch wenn es sie gäbe, dann würden ihr zweifellos jene verflucht guten Bücher am meisten fehlen. Sie wird sie bekommen. […] Als Ort für Gyurcsánys peinigendes Martyrium schlagen wir die Burg in Siklós (Südwestungarn; Anm. d. Red.) vor, wo auch unser König Sigismund von Luxemburg (1368-1437; Anm. d. Red.) in Ketten lag.
Sie wurde kürzlich renoviert, ihren Besuchern bietet sie ein kurzweiliges, doch anspruchsvolles Programm, hinter ihren Mauern beherbergt sie sogar ein Weingeschäft. Es muss nur noch der richtige Insasse gefunden werden, der in einer dunklen Ecke unbeschreibliche Drangsal erleiden muss und hoffnungslos hinter den Gittern hervorstiert. Sein Mittag- und Abendessen käme aus der Küche des Zentralen Hotels und Restaurants in Siklós, nur um zu erfahren, was der Ungar ausstehen muss, dessen Blut er gesaugt hat.
Über die Umstände seines Gefängnisalltags würden Fernsehreportagen entstehen, es würden die meterdicken Wände, die gigantischen Bastionen und die unüberwindbaren Gitterstäbe ins Bild gerückt, um zu verdeutlichen, dass ein Mensch hier im Leben nicht rauskommt. Die EU kann zerfallen, die kapitalistische Weltordnung kann in sich zusammenstürzen, das Wachstum der ungarischen Wirtschaft kann ins Minus umschlagen, doch eines kann mit Sicherheit nicht passieren, dass Ferenc Gyurcsány seine Ketten von sich reißt und wieder über die Ungarn herfällt. […] Zu verdanken ist dies nichts Geringerem als dem System der nationalen Zusammenarbeit, das den großen Drachen in Ketten gelegt und in die Tiefen gestürzt hat.
Eine öffentliche Hinrichtung wäre vielleicht eher nach dem Gusto der Obrigkeit gewesen, sie hat denn auch mit dem Gedanken gespielt, wie sich wohl die Haut des Feindes aller Ungarn vor dem Schreibtisch des Ministerpräsidenten ausnehmen würde, wo sie von den vorbeikommenden ausländischen Gästen bewundert werden könnte, doch hat sie diese Idee dann doch wieder verworfen. In einem Käfig ist der Bär allemal unterhaltsamer als seine Haut als Schreibtischvorleger. Den lebenden Bären kann man besuchen, ihm ein Stück trockenes Brot hinwerfen und sich darüber freuen, dass man ihn hinter Gitter gebracht hat und nicht umgekehrt. Der Schwächling kommt hinter Gitter, der Starke bleibt draußen.
Doch weiß der Teufel. Eine Rezession ist im Anmarsch, mit ihr kommt vielleicht auch Vona (Gábor Vona ist Chef der rechtsradikalen Parlamentspartei Jobbik; Anm. d. Red.), und vielleicht sogar Toroczkai (László Toroczkai ist ein rechtsextremer Politiker und Aktivist; Anm. d. Red.). Verunsichert macht sich der Besucher vom Komfort im Käfig ein Bild, ehe er entscheidet, dem Bären ein neues Fitnessgerät und einen größeren Fernseher bringen zu lassen, und in der Ecke lässt er ein Jacuzzi-Becken aufstellen.
Der Autor ist Publizist der linksliberalen Wochenzeitung Élet és Irodalom. Der hier in Auszügen abgedruckte Text erschien am 19. August 2011, einen Tag vor dem ungarischen Nationalfeiertag ebendort.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar
Hintergrund: Der Sprecher von Regierungschef Viktor Orbán, Péter Szijjártó, kündigte Anfang August an, dass ein Parlamentsausschuss prüfen werde, ob es die geltenden Gesetze erlauben, diejenigen zu identifizieren, die für die horrende Staatsverschuldung des Landes verantwortlich sind und ob man sie dafür strafrechtlich zur Rechenschaft ziehen kann. Nach Lesart vieler in- und ausländischer Medien verbirgt sich hinter den Worten die Absicht der Regierung Orbán, die ehemaligen linksliberalen Ministerpräsidenten Péter Medgyessy (2002-2004), Ferenc Gyurcsány (2004-2009) und Gordon Bajnai (2009-2010), ins Gefängnis zu bringen. (Red.)