„Gesund, zusammen und anständig wachsen“
Hofft auf Wirtschaftsaufschwung und Belebung der öffentlichen Nachfrage: Siemens-Vorstandsvorsitzender Dale A. Martin.
Mit welchen besonderen strategischen Aufgaben wurde Ihnen der Vorstandsvorsitz angetragen?
Generell habe ich natürlich die Aufgabe, Siemens in Ungarn zu vertreten. Speziell oblag mir in diesem Jahr die Integration zweier Siemens-Firmen unter das einheitliche Dach der Regionalgesellschaft. Siemens ist schon seit mehr als 120 Jahren in Ungarn präsent und spielte immer eine wichtige Rolle bei der Modernisierung des Landes. Es ist mein persönliches Ziel, diese langjährige Tradition weiter zu führen und die innovativen und nachhaltigen Lösungen von Siemens an unsere ungarischen Kunden zu vermitteln.
Was umfasst die Integration?
Die Integration des Transformatorenwerkes wurde rechtlich bereits am 1. April 2011 vollzogen. Ab dem 1. Oktober wird dann auch die Siemens Er?m?technika Kft. rechtlich integriert sein. Ich bin mir sicher, dass Siemens Ungarn durch die Nutzung der Synergien mehr Gewicht in der Region Mittel- und Osteuropa gewinnt. Diese Integration ermöglicht eine effizientere Marktpräsenz und steigert auch die Attraktivität unserer Arbeitsplätze.
Und wie sieht es mit der neuen Struktur aus?
Ab Beginn unseres neuen Geschäftsjahres, also ab 1. Oktober, wird auch unsere Regionalgesellschaft aus vier Sektoren bestehen: Energy, Industry, Healthcare und als jüngster Sektor Infrastructure & Cities. Durch diese neue weltweite Struktur von Siemens soll unter anderem der Ausbau des letzteren Bereiches stärker gefördert werden. Städte und deren Infrastrukturentwicklung sind für uns ein wichtiger Wachstumsmarkt, auf dem Siemens mit seinen führenden, innovativen Technologien Lösungen für die umweltbewusste Modernisierung anbietet.
In welchen der vier Sektoren haben Sie in Ungarn auch Produktionskapazitäten?
In drei Sektoren, die sich nahezu alle in Budapest befinden, was für die jetzt anstehende Integration natürlich vorteilhaft ist. Bei unserem Energy Sektor sind es die beiden bereits erwähnten Werke für Verteilertransformatoren sowie für Gas- und Turbinenschaufeln. In letzterem Werk werden die Schaufeln produziert, die dann in die großen Turbinenleitkränze, die wir teilweise auch hier herstellen, eingehängt werden. Schließlich „fertigen“ wir in Ungarn auch Software für Industry und Healthcare.
Wie verteilen sich Ihre Mitarbeiter auf die einzelnen Bereiche?
Insgesamt beschäftigen wir mehr als 2.000 Mitarbeiter. Etwa ein Viertel von ihnen ist im Transformatorenwerk beschäftigt. Ein weiteres Viertel im Turbinenschaufelwerk. Mehr als ein Viertel ist in der Vertriebsorganisation für Ungarn samt Zentralfunktionen und in den „Manpower Hubs“ tätig. Die übrigen 500 Mitarbeiter sind bei unseren Softwarefirmen PSE sowie Evosoft beschäftigt. Die zuvor erwähnten „Manpower Hubs“ bedienen den internationalen Markt, zum Beispiel durch die Installation und Inbetriebnahme von Windkraftwerken, eine der zahlreichen Kompetenzen, auf die ich stolz bin.
Wie sieht Ihre „Handelsbilanz“ aus?
In unserem letzten Geschäftsjahr importierten wir als Siemens Zrt. im Wert von 244 Mio. Euro. Der größte Import nach Ungarn war in jüngster Zeit übrigens die Turbine für das neue Kraftwerk von E.ON in Göny?. Im gleichen Zeitraum exportierten wir nahezu denselben Wert, nämlich 227 Mio. Euro, unsere Bilanz ist also praktisch ausgeglichen. Siemens hat im Vorjahr in Ungarn Waren und Dienstleistungen im Wert von 138 Mio. Euro eingekauft. Und Siemens Ungarn legt großen Wert darauf, noch mehr Produkte aus Ungarn einzusetzen. Zu diesem Zweck haben wir im März als erstes Siemens-Land in Europa in Budapest einen sogenannten „Global Value Sourcing Day“ organisiert. Wir haben nicht nur unsere jetzigen Zulieferer eingeladen, sondern auch mögliche zukünftige Partner, um sie darüber zu informieren, wie man sich qualifizieren kann, um ein internationaler Zulieferer von Siemens zu werden. Gleichzeitig haben wir dargestellt, welche Möglichkeiten Siemens entwicklungsfähigen ungarischen Klein- und Mittelbetrieben anbieten kann. Das Resultat kann sich sehen lassen: Nur drei Monate nach dieser Veranstaltung weist der weltweite Einkauf von Siemens in Ungarn eine signifikante Zunahme auf.
Welchen Stellenwert hat heute das Thema Korruption für Siemens?
International wurde die Aufarbeitung der diesbezüglichen Vergangenheit bei Siemens Ende 2008 abgeschlossen. Parallel zur Aufklärung zurückliegender Fälle wurde bei uns ein sehr strenges Überwachungssystem, das sogenannte Compliance-Programm, eingeführt. Zum Beispiel läuft unser weltweites Zahlungssystem über eine zentrale Clearingstelle, wir können heutzutage keine Überweisung mehr tätigen, die nicht zentral überprüft wird. Bei Siemens wurde viel Wert darauf gelegt, hierfür eine komplexe, wirklich international funktionierende Softwarestruktur zu schaffen. Wir beschäftigen uns aber auch auf anderer Ebene mit der weltweiten Korruptionsprävention. In Abstimmung mit der Weltbank unterstützt die Siemens AG mit 100 Millionen US-Dollar verschiedene Projekte, um das öffentliche Bewusstsein in Sachen Transparenz und Korruptionsbekämpfung zu stärken. So auch eines an der Budapester Central European University. Sie sehen, das Thema Korruptionsbekämpfung ist vielschichtig und wird ernst genommen. Siemens ist entschlossen, bei Transparenz und Compliance ein weltweit führendes Unternehmen zu werden. Wir können uns auf diesem Gebiet auch international messen: im Frühjahr wurde unsere Unternehmensführungskultur (Leadership) weltweit anerkannt. Die internationale Hay Group hat 1.800 Unternehmen untersucht, dabei erreichte Siemens weltweit den 4. Platz und wurde damit das erfolgreichste europäische Unternehmen.
Wie sieht die Geschäftsentwicklung bei Ihnen aus?
Hinsichtlich der privaten Sphäre hoffen wir, dass wir im Zuge der großen Automobilinvestitionen zu neuen Aufträgen kommen werden. Des Weiteren rechnen wir auch auf den Gebieten Gebäudeautomatisierung, Energieverteilung und Fabrikautomatisierung mit neuen Projekten.
Gibt es von Seiten der Automobilinvestoren schon konkrete Aufträge, und wie sieht es bei öffentlichen Aufträgen aus?
Ja, etwa von Daimler für die neue Fabrik in Kecskemét. Neben Produkt- und Systemlieferungen konnten wir einen Hightech-Instandhaltungsvertrag für die Lackiererei gewinnen. Bei öffentlichen Aufträgen treffen wir auf die gleiche Situation wie alle anderen. Finanzierung ist die Herausforderung, aber Ungarn hat die Möglichkeit der EU-Unterstützungsmittel.
Wie sieht es bei anderen Infrastrukturprojekten aus?
Wir konnten im Juni ein bedeutendes Projekt gewinnen: wir werden in dem zum V. Paneuropäischen Eisenbahnkorridor gehörenden Abschnitt zwischen Budapest-Kelenföld und Székesfehérvár Sicherheitseinrichtungen liefern. Für das bis 2013 fertigzustellende Projekt mit einem Volumen von mehr als 50 Mio. Euro. werden die Komponenten nicht nur aus den Werken im Wallis und in Braunschweig, sondern auch aus Budapest kommen.
Wie sieht es bei den Sektoren Healthcare und Energy aus?
Bei Healthcare ist zurzeit noch nicht absehbar, wann die entsprechenden Ausschreibungen erscheinen werden. Wir sind aber jederzeit bereit, unsere Kompetenzen einzusetzen und sind zuversichtlich, dass wir an vielen Projekten teilnehmen können. Bei Energy wird nach dem bedeutenden und erfolgreich übergebenen Auftrag Göny? unser Umsatz sicher etwas zurückgehen. Momentan ist die Investitionsfreude in diesem Sektor etwas gedämpft, wir gehen aber davon aus, dass im Land weitere Großprojekte folgen werden.
Wie würden Sie Ihren Kurs charakterisieren?
Statt mit einem einzigen Slogan würde ich drei Aspekte nennen: erstens gesunde Entwicklung, und zwar zusammen, und schließlich anständig, wobei in letzterem Begriff sicher auch „sauber“ enthalten ist. Anständig steht nicht zuletzt auch für die Forderung, unsere Produkte und Dienstleistungen in ordentlicher Qualität zum richtigen Zeitpunkt bereitzustellen. Natürlich sollten sowohl die Marge als auch die Marktausschöpfung anständig sein. Und drittens sollte dies alles auch noch so umweltbewusst wie möglich erfolgen, auch das ist für mich wesentlich.
Was verbirgt sich hinter der Forderung „zusammen“?
Ich setze mich dafür ein, dass wir sowohl extern als auch intern besser zusammenarbeiten. Extern geht es uns darum, noch enger mit unseren Kunden zusammenzuarbeiten. Intern wiederum darum, dass die einzelnen Bereiche und Mitarbeiter im Interesse unserer Kunden noch besser zusammenwirken, etwa die technischen und die kaufmännischen Mitarbeiter. Unter dem Begriff „zusammen“ verstehe ich auch die bestmögliche Integration unserer Unternehmen. Es gibt bei der Forderung nach einem besseren „Zusammen“ aber auch einige internationale Aspekte. So möchte ich, dass auch die Zusammenarbeit der Siemens Zrt. mit der Clusterzentrale für Mittel- und Osteuropa in Wien verstärkt wird. Hier hoffe ich, einige Vorteile mitbringen zu können, schließlich wurde ich vor knapp zwanzig Jahren von Siemens Österreich eingestellt.
Und was verstehen Sie schließlich unter „gesunder Entwicklung“?
Hier geht es mir um nachhaltiges, kontinuierliches Wachstum. Dazu gehört auch, dass ich versuche, mehr Kompetenzen nach Ungarn zu holen, um mehr qualifizierte und interessante Positionen bei Siemens Ungarn zu schaffen. Beispielsweise ist in unserem Transformatorenwerk die weltweite Entwicklungskompetenz für verlustarme Transformatoren angesiedelt. Auch bei unseren Software-Aktivitäten wird Entwicklung großgeschrieben.
Wie zufrieden sind Sie mit dem innerhalb eines Jahres Erreichten?
Wir sind bei der Integration gut vorangekommen. Natürlich gibt es noch etliche Dinge, wo wir unsere Abläufe verbessern müssen. Unsere „Customer Days“ und unser sogenannter ‘Net Promoter Score’ zeigen, dass einige Verbesserungen wahrgenommen werden. Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass die Ausrichtung von Siemens Ungarn als wachsendes, ordentliches Unternehmen stimmt. Jetzt hoffen wir auf einen generellen Aufschwung auf dem ungarischen Markt und auf eine Belebung der öffentlichen Nachfrage.
Zur Person
Für Dale A. Martin – geboren 1957 in Pennsylvania (USA), Studium in Wien und Taiwan, amerikanischer und österreichischer Staatsbürger – ist Ungarn alles andere als eine Terra incognita. So war er hier bereits von 1992 bis 1995 als kaufmännischer Geschäftsführer der damaligen Siemens Telefongyár Kft. (Siemens Telefonfabrik GmbH) tätig. Anschließend war er bis 1999 kaufmännischer Vorstand für die Siemens Rt. und die damals zu Siemens gehörende Magyar Kábelm?vek Rt. (Ungarische Kabelwerke AG). Dass er zu den wenigen Expat-Geschäftsführern gehört, die neben den Weltsprachen – er spricht sogar etwas Chinesisch – auch des Ungarischen mächtig sind, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass drei seiner Großeltern Ungarn waren und er mit einer Ungarin verheiratet ist. Herr Martin war auch in Fernost tätig: Erst in Taiwan, dann in Hongkong und schließlich in Tokio. Anschließend war er CFO von Siemens in der Slowakei.