Die Sicht auf Berlin, ausgehend von einer Bar
In den sechs Erzählungen der Ungarin Noémi Kiss geht es um die Themen Sex, Drogen und nicht Rock n’ Roll, wie man annehmen würde, sondern um einen Mord. Das Szenario in „Was geschah, während wir schliefen“ spielt sich im Berliner Stadtteil Schöneberg ab. Zur ungewöhnlichsten Zeit finden sich dort nachts in einer Bar Menschen zusammen. Eigentlich will jeder allein sein, doch gesellen sie sich letztlich doch zueinander und so „bringt die Summe das Eis zum Schmelzen.“
Die Erzählerin ist auf der Suche nach Identität und Halt. Sie findet Gefallen daran, Grenzen zu überschreiten. Dabei ist sie getrieben von Lust und riskiert auch ihr eigenes Leben. In den Erzählungen nimmt Kiss den Leser an der Hand, führt ihn an immer neue Orte und macht das Wandeln zwischen den Extremen erfahrbar. Dabei bewegt sie sich zwischen Traum und Wirklichkeit, Angst und Sehnsucht.
Traumwandlerische Tiefenbohrungen in Berliner Bar
Weil Paare in der Berliner Bar nicht willkommen sind, zählt nur die „Offenheit in den Herzen.“ Alles ist hier zu haben, was man auch tatsächlich sehen und drücken kann. Sogar die Silikon-Brüste von Hure Sabrina. Noémi Kiss gelingt auf einzigartige Weise eine Renaissance der abgedroschenen Themen Sex, Drogen und Rock n’ Roll.
Eigentlich wollte die Autorin eine Bildungsreise nach Berlin unternehmen. Die Erzählung „Trans“ ist jedoch der Versuch, einen Ort so zu verstehen, wie er sich in einer bestimmten Nacht Noémi Kiss präsentiert haben muss. Sie bohrt in den Tiefen der Bar nach, in der keine Drogen-Geschäfte gemacht werden dürfen: „Wer Geschäfte macht, den lassen sie nicht mehr zur Tür herein…du kannst nicht geizig sein, denn hier hat keiner etwas, du kannst nicht einmal lügen, denn an diesem Ort gibt es keinen Unterschied zwischen Phantasie und Wirklichkeit.“ Auf einem nächtlichen Spaziergang stößt sie zusammen mit einem Freund auf die Bar. Der Freund kennt die Bar vom Hörensagen, war jedoch selbst noch nie darin. Das ändert sich in dieser Nacht, in der er sich Mühe gibt, „in den Seelen zu stochern.“
Kiss schickt ihre Heldin in Raum und Zeit vor und zurück
Geschickt arbeitet Kiss mit Sprüngen in Zeit und Raum. Sie schickt ihre Heldin vor und zurück, dennoch passt sie sich den Gegebenheiten stets rasch an.
Um fünf Uhr morgens gibt es schließlich den Mord, dessen Motiv allen klar ist: Eifersucht „einer alten Hure“ auf eine junge Frau. „Wie im Film“ sitzen die Gäste währenddessen an der Bar. Verstört und nicht ganz nüchtern verlassen sie irgendwann den Raum. Doch die Geschichte ist nicht zu Ende. Zwischen Leo, einem Drehbuchautor aus der Bar – wie passend für einen Mord –, und der Ich-Erzählerin bahnt sich etwas an: „Zuerst behauptet er allerdings, dass er schon lange nicht mehr an die Liebe glaube. Na bitte, jetzt habe ich ihn am Hals, jeden Abend kommt er mir mit seinen Gefühlen.“
„Eine aufregende Stimme im ungarischen Männergesangsverein”
Am treffendsten beschrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung Noémi Kiss: „Die junge Autorin Noémi Kiss ist eine neue aufregende Stimme im Männergesangverein der ungarischen Literatur, die beweist, dass bei einer elaborierten Poetologie das Lesevergnügen nicht zwangsläufig auf der Strecke bleiben muss.“ Damit ist alles gesagt, was gesagt werden muss. Holen Sie sich das Buch!
NOÉMI KISS:
Was geschah,
während wir schliefen
Matthes & Seitz, Berlin 2009
182 Seiten
19,80 Euro