Chinesische Buffets, der Chinamarkt in Józsefváros und unzählige Produkte in unzähligen Läden: Vieles und viele in Budapest scheinen „Made In China“. Manche wundern sich, wo plötzlich die vielen Chinesen herkommen, andere gehen schon jahrelang mit ihnen in die Schule, sind mit ihnen verheiratet, machen Geschäfte mit ihnen. Dennoch scheint das Unwissen über die Einwanderer aus Ostasien groß zu sein. Statt miteinander wird oft nebeneinander gelebt – eine Tatsache, die leicht Vorurteile aufkeimen lässt. Um mehr über die chinesische Minderheit in Ungarn zu erfahren, traf sich Lisa Weil von der BUDAPESTER ZEITUNG mit Tian Yang Zhang, einem der Redakteure der Radiosendung „Wunderbares Mandarin“ (Csodálatos Mandarin, Tilos Rádió), und Dr. Gergely Salát, dem Leiter des Zentrums für moderne China-Forschung am Konfuciusz Institut der Eötvös Loránd Universität. Sie sprach mit ihnen über Siedlungskultur, Integration – und „Bananen“.
Die engen Gassen des Marktes in Józsefváros sind überfüllt. Käufer und Verkäufer tummeln sich gleichermaßen, ab und zu drängeln sich Kinder durch die Menge, laufen zu ihren Eltern, die Mah-Jongg spielend auf Hockern an kleinen Tischen sitzen. Wenn die Luft nicht nach Gyros riecht, riecht sie nach Plastik. Fast alles hier ist „Made In China“, bis auf die Verkäufer. Der große Chinamarkt in Budapests 8. Bezirk besteht nur noch zu einem geringen Teil aus Chinesen. Etwa 65 Prozent der Verkäufer sind Vietnamesen, von denen ungefähr drei- bis viertausend in Ungarn leben. Sie arbeiten heute vermehrt im Einzelhandel, an Ständen auf dem Markt, an heißen wie an kalten Tagen – genauso wie die Chinesen vor 20 Jahren, die nach der Wende scharenweise nach Ungarn gekommen sind. Vor 1990 verirrten sich höchstens ein paar Austauschstudenten ins Land, heute gibt es etwa 10.000 Chinesen in ganz Ungarn. Dr. Gergely Salát vom China-Institut der Eötvös Loránd Universität erklärt die Entwicklung der Siedlungskultur: „Nach den Vorfällen auf dem Tiananmen-Platz 1989 hatte sich in China eine große Unsicherheit im Kreis der in den Neunzigern erfolgreichen Unternehmer ausgebreitet. Sie wussten, dass nun der Kommunismus stärker zurückkommen würde und sahen sich deshalb nach nicht-kommunistischen Ländern um, in denen sie ihre Geschäfte weiterführen könnten.“ Da Ungarn am 1. Januar 1991 als eines der wenigen europäischen Länder die Visa-Pflicht verbannte, kamen zwischen 1990 und 1992 etwa 50.000 Chinesen ins Land, oft nur mit einem Koffer, berichtet Salát. Da zu dieser Zeit ein großer Mangel unter anderem an Kleidung und Schuhen herrschte, begannen die Chinesen ihre Waren in Metro-Unterführungen zu verkaufen. 1992 wurde die Visa-Pflicht jedoch wiederhergestellt. Einige Jahre später kamen die großen multinationalen Unternehmen nach Osteuropa; es wurde hart, dem wirtschaftlichen Wettbewerb standzuhalten. Seitdem hat die Anzahl der Chinesen in Ungarn stetig abgenommen. Was in den Unterführungen begann, breitete sich auf den gesamten Einzelhandel, später auf die Gastronomie aus. Auch heute arbeiten noch mehr als 90 Prozent der chinesischen Einwanderer in Einzel- oder Großhandel und Gastronomie.
„Die Chinesen“ – eine Parallelgesellschaft?
Die erste große Einwandererwelle der neunziger Jahre brachte die erste chinesische Generation in Ungarn mit sich. Seitdem gibt es bereits eine Zweite, bald wird es eine Dritte geben. Es gibt ungarisch-chinesische Schulen, Zeitungen, Anwälte, Frauenärzte und Friseure. In den Vierteln, in denen besonders viele Chinesen wohnen, kann man sogar chinesisches Fernsehen empfangen. Haben sich die chinesischen Immigranten zu einer Parallelgesellschaft in Ungarn entwickelt? „Es ist schon so, dass Chinesen, die hier leben, ihre eigene kleine Welt haben“, meint Salát. „Manche haben wenig Kontakt zu Ungarn, doch würde er ihnen fehlen, würden sie ihn auch suchen. Dadurch, dass sie aber alles haben, was sie benötigen – und das sogar auf Chinesisch – sind sie nicht auf Kontakt mit der ungarischen Bevölkerung angewiesen.“ Doch wo wäre eine solche Kontaktaufnahme überhaupt möglich? Tatsächlich gab es in Ungarn in den letzten Jahren dahingehend viele Entwicklungen. Es gibt ein chinesisches Kulturzentrum in Budapest, das Zentrum der Chinesischen Kultur und Kunst, es gibt Fernsehsendungen wie „Közelebb Kínához“ (Näher an China) auf Duna TV, Artikel oder wissenschaftliche Aufsätze. Auch auf politischer Ebene beschäftigt man sich mit den Einwanderern: Unterstützt von der Europäischen Integrationsbasis und der Corvinus Universität, trifft sich der Rat zur Integration der Einwanderer regelmäßig, um entsprechende Strategien zu besprechen. Woran liegt es also, dass trotz der Bemühungen viele Ungarn so wenig über die chinesische Gemeinschaft wissen?
Außen gelb, innen weiß
Tian Yang Zhang ist ein 24-jähriger, chinesisch-stämmiger Mann, der im Kindesalter nach Ungarn kam. Seine Eltern schickten ihn auf eine ungarische Schule, „zum Glück“, wie er heute sagt, denn nur so hätte er das akzentfreie Ungarisch lernen können, das er heute spricht. Tian arbeitet bei Tilos Rádió gemeinsam mit anderen jungen Chinesen für die Radiosendung „Csodálatos Mandarin“ (Wunderbares Mandarin). Sein Wissen über die chinesische Bevölkerung Ungarns ist immens, seine Worte gewählt, seine Ansichten kritisch und realistisch. Tian versucht, die Kluft zwischen Ungarn und Chinesen zu erklären: „Es gibt natürlich einen enormen Mentalitätsunterschied. Vieles bei den Chinesen läuft chaotischer, spontaner, komplizierter ab, so auch geschäftliche Verhandlungen. Andererseits schafft natürlich auch die Sprache eine Distanz: Viele Chinesen lernen kein Ungarisch, weil sie gar nicht planen, langfristig in Ungarn zu bleiben. Darüber hinaus ist es aufgrund der chinesischen Strukturen in Budapest meist auch nicht notwendig.“ Dann weist Tian hinter sich, als stünde jemand dicht hinter ihm. „Für die Chinesen ist ihr kultureller und historischer Hintergrund immer sehr präsent, stets hinter ihrem Rücken. Diesen Einfluss können sie nicht einfach ablegen und sagen: Ich bin jetzt Europäer. Bei den Vietnamesen ist das anders. Vietnam war eine französische Kolonie, sie können die europäische Identität eher annehmen als Chinesen. Für diese ist es schwer, sich zu assimilieren.“ Manche, insbesondere wohlhabende Familien, schick-ten ihre Kinder darüber hinaus lieber auf eine englische Schule, da sie ohnehin vor hätten, aus Ungarn nach Amerika, Australien oder England weiterzuziehen und erst dort richtig sesshaft zu werden. Ungarn diene in diesem Fall eher als Zwischenhalt oder Sprungbrett. „Es gibt wenige Chinesen, die nach Ungarn kommen mit dem Ziel, ihren Lebensabend hier zu verbringen“, so Salát. „Gerade wenn sie vorhaben, weiterzuziehen, interessiert sie die ungarische Sprache und Kultur nicht besonders. Anders ist es bei denjenigen, deren Kinder als zweite
Generation chinesischer Einwanderer hier geboren sind. Die lernen in Kindergarten, Schule und Uni perfekt Ungarisch. Sie bleiben dann meist auch für einen längeren Zeitraum oder sogar für immer in Ungarn, schließen hier Freundschaften, gehen Beziehungen ein, heiraten, nähern sich sehr stark der ungarischen Mentalität an. Chinesen der zweiten Generation werden deshalb ‚Bananen’ genannt: außen gelb, innen weiß.“
Etwa 20 Jahre alt ist die Geschichte der chinesisch-ungarischen Siedlungskultur. Was lange klingt, ist im Vergleich zu einwanderungsbeliebten Ländern in Westeuropa recht kurz. Reichte dieser Zeitraum für Ungarn, eine Toleranz gegenüber den chinesischen Mitbürgern zu entwickeln? „Es gibt einige Ungarn, denen ist erst in den letzten fünf Jahren aufgefallen: Ups, hier sind ja auch noch andere, die unter uns leben, über die wir aber absolut nichts wissen. Tagtäglich sehen wir sie auf der Straße, wissen, dass sie ein Geschäft besitzen, auf dem Markt verkaufen, eventuell ein Buffet führen – mehr jedoch nicht. Durch diese Unwissenheit sind viele Ungarn eben auch unsicher, wie sie mit den chinesischen Mitbürgern umgehen sollen. Das schafft leicht Intoleranz.“ Diese Ansicht bestätigt auch Salát: „Nur wenige Ungarn wissen etwas über die Chinesen, und ja, es gibt Vorurteile. Sie werden zwar nicht tätlich angegriffen, weil sie Chinesen sind; höchstens angepöbelt, als „Gelbe“ betitelt. Viele haben jedoch das Gefühl, Chinesen seien plötzlich zuhauf nach Ungarn gekommen. Das liegt zum einen daran, dass sie so ‚sichtbar’ sind: Nicht nur aufgrund ihres Äußeren, sondern auch, weil sie im Servicebereich arbeiten. Dass sie in Wahrheit jedoch gar nicht so viele sind und schon seit 20 Jahren nach Ungarn kommen – und gehen – wissen die Wenigsten. Darüber hinaus halten viele Ungarn alle Asiaten für Chinesen, ganz egal, ob es in Wahrheit Vietnamesen, japanische Touristen oder koreanische Austauschstudenten sind.“
„Made In China“
Außerdem spricht Salát das sogenannte „Made In China“-Syndrom an: „Viele haben das Gefühl: Egal, was sie kaufen, alles kommt aus China. Diesbezüglich gab es auch einen Skandal in Ungarn, da eine Zeit lang Knoblauchsäckchen mit Ungarnflagge im Handel waren, die in Wahrheit aus China stammten. Das hat viele Menschen aufgeregt. Die vielen Waren und die gefühlt vielen Menschen bereiten einigen Ungarn deshalb Unbehagen, quasi von China umgeben zu sein. Allerdings hat das absolut nichts mit den hiesigen Chinesen zu tun, denn es sind die multinationalen Unternehmen, die diese Waren nach Ungarn bringen.“ Was bedeutet dieses Nebeneinander der Chinesen und Ungarn also für ihre Zukunft? „In Ungarn ist schon viel geschehen, was beispielsweise die Berichterstattung über Chinesen anbelangt“, meint Tian. „Es wird dennoch lange Zeit brauchen, bis die Entwicklung abgeschlossen ist, bis die Ungarn über sie Bescheid wissen und beide völlig tolerant miteinander umgehen. Ich finde, dass man nicht nur Chinesen, sondern jedes ‚fremde’ Volk besser kennenlernen sollte. Sonst bleibt es für immer fremd.“
Lisa Weil