Musik auf den Augen
Zacks Werkstatt ist ein Ort, den man als Kind geliebt hätte und als Erwachsener beneidet. Sie befindet sich im ersten Stock einer weitläufigen Wohnung. Im Eingangsbereich steht – wie aus dem Nichts – eine schwarze Telefonzelle: In der Vergangenheit wohl die zentrale Telefonierstation des Hauses, wird hier in Zukunft der Showroom von „Tipton Eyewear“ eröffnet. In der Küche herrscht lockerer WG-Charme, es duftet nach Spaghetti mit Tomatensauce. Das geräumige, helle Arbeitszimmer des Brillendesigners ist der wohl schönste Raum der Wohnung. Durch ein großes Erkerfenster blickt man direkt auf die Erzsébet híd und das glitzernde Wasser der Donau. Die beiden Arbeitsräume der Werkstatt sind mit erfinderischen Gerätschaften, Einzelteilen, Werkzeug, Kisten und Brillengestellen übersät. Überall gibt es etwas zu entdecken und zu erfahren. Allein diese Wohnung würde wohl genug Stoff für eine Reportage hergeben – Zack und seine Brillen tun es allemal.
Musik, Filme, Brillen: Zachary Tiptons Leidenschaften sind in seiner Werkstatt schwer zu übersehen. In den Regalen stapeln sich Filmrollen, an einer Wand sind hunderte Schallplatten aufgetürmt, zwischendrin blitzen überall Brillen hervor. Manche sind noch nicht ganz zusammengesetzt, ihnen fehlt ein Glas oder die Bügel. Meist erkennt man jedoch bereits, ob es sich um eine „Cinematique“ oder eine „Vinylize“ handelt. Dies sind die beiden Designlinien, an denen Zack momentan hauptsächlich arbeitet und die überwiegend gekauft werden. Und sie beide vereinen seine Passionen mit besonderen Design-Features: Bei den Brillen der Linie „Cinematique“ sind in die Bügel dünne Filmstreifen eingebaut, die – entweder in transparentem Plastik oder auf poliertem Stahl – sichtbar gemacht werden. Die Modelle sind nach großen Regisseuren oder Schauspielern wie Fellini, Chaplin oder Hepburn benannt. „Wir haben einige Filme gespendet oder von Museen zur Verfügung gestellt bekommen“, erklärt Zack die vielen Filmrollen in seiner Werkstatt. „Pro Brillengestell werden aber nur vier Frames benötigt – deshalb haben wir noch sehr viel Film übrig. Wir digitalisieren das Filmmaterial teilweise jedoch auch, wenn es etwas Besonderes ist. Beispielsweise haben wir Material von den Olympischen Spielen 1956, russische Propaganda-Weltraumaufnahmen, aber auch Pornografie aus den Fünfzigern.“ Auf die Frage, wieviele sich für pornografische Filmstreifen in den Bügeln interessieren, antwortet Zack grinsend: „Gute zehn Prozent der Leute möchten so etwas. Was soll ich sagen, Sex sells.“ Viele würden sich aber auch einfach Farben, Explosionen, das Meer oder die Wüste in ihre Brillenbügel wünschen.
Es war einmal ein Flohmarkt
Die Geschichte der „Vinylize“-Serie wiederum begann auf dem Flohmarkt, wo Zack jede Menge Schallplatten kaufte, um mit ihnen herumzuexperimentieren. Irgendwann wurden daraus Brillengestelle – und mittlerweile eine ganze Designlinie. Die Idee dabei ist, die obere Schicht des Brillengestelles im Vinyl-Design, in Schwarz mit feinen Rillen, auszuarbeiten. „Dabei handelt es sich um eine Speziallaminierung“, erklärt Zack. „Wir nehmen altes Plastik, das wir noch übrig haben, und verkleben es mit einem anderen Material, und im Grunde kleben wir dann die Schallplatten auf Plastik. Die Platten kaufen wir immer noch teilweise auf dem Flohmarkt oder im Internet. Mittlerweile pressen wir aber auch selbst Schallplatten in Tschechien.“ Denn Zack möchte die Kunst der Musiker nicht nur nutzen, er möchte sie auch unterstützen, indem er sie verbreitet. Beim Brillenkauf erhalten die Kunden deshalb stets eine Schallplatte mit dazu – je nachdem, wovon Zack musikalisch gerade begeistert ist. Momentan ist es Jon Kennedy, in der Vergangenheit war es mitunter die Erik Sumo Band. Und noch etwas anderes bekommen die Brillenkäufer mit nach Hause: ein Brillenetui aus einer gebogenen 7-Inch-Schallplatte.
Man muss sich vorstellen: Zack und sein Team von Tipton Eyeworks verkaufen ihre Brillen von Australien über Malaysia bis hin zu Israel überall. Dennoch entsteht das Meiste hier per Hand – oder mit handgemachten Maschinen! Die Brillencases werden beispielsweise mit einer selbstgebauten Maschine gefertigt, in die zwei Haarföne [sic!] eingebaut sind. Diese erhitzen die Schallplatten, wodurch sie zu einer Tasche zusammengebogen werden können. „Anfangs habe ich es mit industriellen Maschinen versucht“, sagt Zack. „Doch die haben die Schallplatten nur verbrannt. Später bin ich auf die Idee mit den Fönen gekommen und habe mir die Maschine so zusammengebaut, wie ich sie für meine Zwecke brauche. Tja, und mittlerweile habe ich sogar meine Lieblingsfönmarke für diese Maschine!“ Nach dieser großartigen Kuriosität folgt sogleich die nächste: In einem anderen Raum der Werkstatt befindet sich ein winziges, selbst errichtetes Kämmerchen in der Wand. „Das haben wir gefunden, als wir im Januar dieses Jahres hier in die Werkstatt gezogen sind“, erzählt Zack verschwörerisch. „Ist das nicht toll?“ Das ist es! Die Kammer ist winzig und schmal. Eine Bank, die kaum Platz für einen Menschen bietet, ist eingebaut, ein einfacher Spiegel hängt an der Wand und oben, unter der Decke des Kämmerchens, hängen bronzefarbene Tafeln mit den Gravuren der großen Theater Budapests: Thália, József Attila, Vígszínház, Nemzeti… „Vorher lebte hier ein ungarischer Schauspieler. Leider wurde die Wohnung nach seinem Auszug noch mehrere Male verkauft – die Spuren sind deshalb verwischt, wir wissen nicht einmal richtig, wie er heißt. Doch wir vermuten, dass er sich zum Üben in die Kammer zurückgezogen hat, um sich in Rollen einzufinden oder Grimassen zu schneiden.“ Und nun steht das Kämmerchen inmitten einer Designer-Brillenwerkstatt. Sicherlich wäre der Vormieter froh, wüsste er, dass er seine Wohnung nicht an einen Fachfremden weitergegeben hat – wie die Filmrollen beweisen.
Zukunftsblick
Und wie sehen Ihre Zukunftspläne aus, Herr Tipton? „Da gibt es viele. Momentan arbeiten wir an bunten Brillengestellen – bisher haben die meisten der Brillen schwarze oder braune Rahmen in verschiedenen Nuancen.“ Außerdem wird an Büsten aus Schallplatten experimentiert, in die mithilfe eines Gipsabdrucks ein Gesicht eingeformt wird. Auf diesen sollen im Showroom, der voraussichtlich Ende Mai fertiggestellt wird, die Brillen vorgeführt werden. „Wir möchten in Zukunft aber auch den deutschen Markt stärker erschließen.“ Bisher werden Zacks Brillen nämlich nur in einem Münsteraner Optik-Handel verkauft. Aufgrund der vielen Bestellungen und Nachfragen hofft Zack außerdem, zukünftig mehr Produktion in einer Pécser Fabrik ablaufen lassen zu können, um effizienter und qualitativ noch hochwertiger arbeiten zu können. Und wer weiß: Vielleicht wird Zack irgendwann aus der Werkstatt ausziehen müssen, weil sie ihm zu klein geworden ist, und dann findet ein Nachmieter all die rätselhaften Fön-Maschinen und Schallplatten-Büsten und fragt sich: Wer hat hier wohl vorher gewohnt?
Tipton Eyeworks
Im Handel bei Orange Optika
Király utca 38, VI. Bezirk
Showroom (ab Ende Mai 2011) und Werkstatt:
Belgrád rakpart 26, V. Bezirk
www.tipton.hu
Email: info@tipton.hu
Zur Person
Zachary Tipton wurde in Sun Valley, Idaho, geboren, lebte aber Zeit seines Lebens in Seattle, Washington. Der 32-Jährige experimentierte schon früh in der Werkstatt seines Vaters, einem Architekturkünstler, mit verschiedenen Materialien. Nach seiner Optiker-Ausbildung begann er Ende der Neunziger, Brillen nicht mehr nur einzustellen, sondern sie auch zu entwerfen. Anfang der 2000er kam er auf die Idee, mit Vinyl zu arbeiten. Wenig später zog er in das Heimatland seiner Mutter, nach Ungarn, wo er die Vinyl-Rahmen in einer Fabrik anfertigen lassen konnte. 2004 stieg auch sein Bruder Zoltán in das „Brillengeschäft“ ein, der auch heute noch von den USA aus bei Tipton Eyeworks mitarbeitet, sich unter anderem um die Vermarktung kümmert. Die Brillen kosten zwischen 200 und 300 EUR und bestehen aus hypoallergenem Celluloseacetat.