Auf der Suche nach den verlorenen Wählern
Die Popularität des Fidesz erinnert dieser Tage an einen havarierten Heißluftballon. Weil die Luft sukzessive aus dem Ballon entschwindet, sinkt dieser aus stratosphärischen Höhen stetig Richtung Erde. Die Regierungspartei hat seit Mai rund ein Drittel ihrer Wählerschaft verloren. Allerdings ist weit und breit keine Oppositionspartei auszumachen, die aus dem sinkenden Wählerzuspruch für den Fidesz Kapital schlagen könnte.
Wiewohl sie an Anziehungskraft eingebüßt hat, genießt die Regierungspartei immer noch die höchsten Popularitätswerte unter den Parlamentsparteien. Der Fidesz hat mehr Sympathisanten hinter sich als die gesamte Opposition zusammen. Indessen ist die Zahl der so genannten unentschiedenen Wähler heute mit Abstand am höchsten. Sie entspricht in etwa der Zahl der jetzigen Gesamtwählerschaft aller fünf Parlamentsparteien. Laut einer kürzlich durchgeführten Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Szonda Ipsos hat inzwischen die Hälfte der Bevölkerung keine Parteipräferenz mehr. Auch ein anderes Meinungsforschungsinstitut, Tárki, kam zu ähnlichen Ergebnissen.
In den vergangenen Monaten musste die Regierungspartei Fidesz erhebliche Popularitätsverluste hinnehmen. Diese sind weniger auf einzelne skandalträchtige Geschehnisse, als vielmehr auf eine Serie von politischen Ereignissen zurückzuführen. Obwohl die Zahl derjenigen Fidesz-Wähler weiterhin sehr stabil ist, die sicher wissen, dass sie bei der nächsten Wahl teilnehmen werden, sind viele ehemalige Sympathisanten der Regierungspartei in das Lager der so genannten unentschiedenen Wähler abgewandert. Diese Tendenz hat bisher deshalb wenig Aufmerksamkeit erregt, weil sie einerseits schrittweise vor sich ging. Andererseits ist ein kollektives Überlaufen von abtrünnigen Fidesz-Wählern zur Opposition ausgeblieben. Am Kräfteverhältnis zwischen Regierungs- und Oppositionslager hat sich also kaum etwas geändert.
Wählerzuspruch für Fidesz sank um 15 Prozentpunkte
Die Erhebungen der zwei Meinungsforschungsinstitute Szonda Ipsos und Tárki zeigen einen deutlichen Rückfall des Fidesz in der Wählergunst. Bei Szonda Ipsos fiel der Fidesz von 42 auf 27 Prozent, bei Tárki von 45 auf 30 Prozent. Während Tárki die Hälfte dieser Wählerverluste in den vergangenen drei Monaten gemessen hat, datiert Szonda Ipsos den Beginn des Schwunds der Fidesz-Wählerschaft auf das Ende Vorjahres zurück.
Im März verlor der Fidesz zum ersten Mal auch unter jenen Wählern an Zuspruch, die eine Parteipräferenz haben. Laut Szonda Ipsos fiel die Zustimmung für die Regierungspartei im Kreis dieser Wähler von 60 auf 54 Prozent. Allerdings ist dieser Wert immer noch höher als das Wahlresultat des Fidesz im Vorjahr. Die oppositionellen Parteien MSZP und Jobbik konnten hier nur leicht zulegen: von 20 auf 23 Prozent und von 12 auf 15 Prozent. Die LMP dümpelt nach wie vor in unmittelbarer Nähe der Fünfprozenthürde dahin. Insgesamt bedeutet dies, dass es bislang noch keine ernstzunehmenden Wählerverschiebungen in Richtung Opposition gegeben hat.
„arrogant, unsensibel abschätzig“
Wir können nur darüber spekulieren, welche Bedeutung diese Tendenzen haben und was genau die Ursachen für den Wählerschwund des Fidesz sind. Wie bereits zuvor angedeutet, sehen wir, dass weder negative Entwicklungen noch Skandale noch widersprüchliche Entscheidungen der Regierung zum Popularitätsverlust des Fidesz geführt haben, selbst wenn sie im linksliberalen Lager, im Kreise kritischer Intellektueller und unter ausländischen Beobachtern bisweilen helle Empörung hervorgerufen haben. In Summe könnten sie aber – und hier bewegen wir uns auf dem Terrain der Spekulation – jenes Bild vom Fidesz untermauert haben, das von der Opposition unentwegt gezeichnet wird: eine autokratische Partei, welche die totale Kontrolle erlangen will, und die rachesüchtig, der Gesellschaft enthoben, arrogant, unsensibel, ja mitunter sogar offen abschätzig gegenüber den Armen ist.
Soziale Komponente entscheidet
Wenn der letztgenannte Vorwurf bei den Wählern verfängt, kann für den Fidesz noch ein beträchtlicher Schaden entstehen. Während nämlich die Sorge der Opposition um den Abbau von Rechtsstaat und Demokratie die Wähler nicht sonderlich berührt, reagieren sie auf die soziale Kompetenz der Politiker äußerst empfindlich.
Der Fidesz hat vermutlich einen Fehler begangen, als er die Einführung einer Pauschalsteuer (Flat tax) so verkaufte, dass sie allen zugutekommen werde. Viele Menschen müssen heute nämlich feststellen, dass ihnen die Einheitssteuer finanziell nicht nur zum Nachteil gereicht, sondern dass diese obendrein auch noch die Vermögenden bevorzugt. Viele Ungarn werden daraus wohl den Schluss ziehen, dass dem Fidesz die Realität der Geringverdiener nicht nur fern, sondern auch gleichgültig ist.
Solange es freilich keine schlagkräftige Opposition gibt, wird der Wählerschwund des Fidesz keine dramatischen Auswirkungen auf die Regierungspartei haben. Viktor Orbán und seine Partei werden die Parlamentswahlen 2014 auch so mit Leichtigkeit gewinnen können. Was hinwieder die vom Fidesz abgewanderten Wähler anbetrifft, steht zu befürchten, dass sie sich von der Politik völlig entfremden werden.