„Wir werden unsere Aufgabe erfüllen“
Der verfassunggebende Prozess ist in seine heiße Phase getreten. Letzten Dienstag trat die Legislative zum ersten Mal zusammen, um über den Verfassungsentwurf der Regierungskoalition einerseits, und jenen der ehemaligen sozialistischen Parlamentspräsidentin (2002-2009) und jetzigen unabhängigen Abgeordneten und Vorsitzenden der „Sozialen Union“, Katalin Szili, zu beraten. Zwei Oppositionsparteien nahmen an der parlamentarischen Verfassungsdebatte aus Protest nicht teil, die Sozialisten (MSZP) und die Ökopartei LMP.
Parlamentschef László Kövér erklärte die Verfassung von 1949 zu Beginn der Debatte für ungültig.
„Alle hatten die Möglichkeit dazu, am verfassunggebenden Prozess teilzunehmen. Die Arbeit hat vor vielen Monaten begonnen, ja sie war schon zuvor lange in Gange, es gab sogar einen vorbereitenden Ausschuss. Jede Partei ist alt genug, um zu entscheiden, ob sie teilnehmen möchte. Wir werden folglich mit denen die Verfassung ausarbeiten, die teilnehmen werden. Mit denen, die nicht teilnehmen, beschäftige ich mich nicht. Ich konzentriere mich nur darauf, was unsere Aufgabe ist. Und wir werden diese Aufgabe erfüllen“, so Regierungschef Viktor Orbán am ersten Tag der Verfassungsdebatte im Parlament. Während der Verfassungsentwurf der Regierungskoalition Fidesz-KDNP den Titel „Grundgesetz Ungarns“ trug, hatte jener von Katalin Szili übrigens den Titel „Verfassung der Ungarischen Republik“.
Alle Parteien waren eingeladen
Am ersten Tag der parlamentarischen Diskussion über die zwei Verfassungsentwürfe nahmen laut Medienberichten nur etwa 60 Abgeordnete teil. Neben den beiden Regierungsfraktionen, Fidesz und KDNP, war bei der Parlamentsdebatte nur die rechtsradikale Oppositionspartei Jobbik vertreten. Thema war vor allem das Fernbleiben der Sozialisten und „Neu-Sozialisten“, sprich: LMP. Der Vorsitzende der KDNP, Péter Harrach, erklärte etwa, dass alle Parlamentsparteien zur Teilnahme am verfassunggebenden Prozess eingeladen worden seien. Wer nicht Anteil haben wolle, grenze sich bei der Erneuerung des Landes selber aus. Gleichwohl werde das neue Grundgesetz die Verfassung aller Ungarn und der gesamten ungarischen Nation, also innerhalb wie außerhalb der Grenze, sein, sagte Harrach.
Die rechtsextreme Oppositionspartei Jobbik sah dies naturgemäß anders. Jobbik übte scharfe Kritik am entstehenden Grundgesetz und dem verfassunggebenden Prozess. Der Vorsitzende der Partei, Gábor Vona, richtete folgende Worte an die beiden Regierungsparteien: „Entwaffnen sie uns doch mit einer Volksabstimmung!“ Und er setzte fort: „Ich weiß, dass sie dazu zu feige sind. So bleibt nichts anderes als die Schmach. Was wir jetzt erleben, ist ein Verbrechen gegen die Nation, wozu ich Ihnen beim besten Willen nicht gratulieren kann. Ich hoffe, dass das Schicksal sie dafür bezahlen lässt.“ Vona redete auch einmal mehr von der „Lehre der Heiligen Krone“ (die Budapester Zeitung berichtete darüber am 13. März 2011) als das Wort, die nach Meinung von Jobbik als Rechtsgrundlage für eine neue Verfassung dienen müsste. Der Jobbik-Chef betonte zudem, dass seine Partei nur deshalb an der parlamentarischen Verfassungsdebatte teilnehme, weil die Partei dies ihren Wählern, der Heiligen Stephanskrone, den Ahnen und den künftigen Generationen schuldig sei. Das Fernbleiben von MSZP und LMP bezeichnete Vona als bemitleidenswerten, infantilen Akt der Hysterie.
Uneinigkeit zwischen den Parteien
Katalin Szili, die neben jenen der Regierungskoalition einen zweiten Verfassungsentwurf zur Parlamentsdebatte eingereicht hatte, sagte, dass die neue Verfassung nur dann zum Grundgesetz der Nation erwachsen werde, wenn sie auf einer breiten gesellschaftlichen Basis stehe, also nicht bloß die Privatangelegenheit einer kleinen politischen Elite sei. Die ehemalige Parlamentspräsidentin erklärte ferner, dass Ungarn sich vom „Schatten des Kommunismus“ nur befreien könne, wenn es zum Modell des Zweikammerparlaments zurückkehre. Szili betonte allerdings, dass laut ihrem Verfassungsentwurf ein neues Grundgesetz erst nach einer Volksabstimmung in Kraft treten könnte. Die Regierungsparteien Fidesz-KDNP indes lehnen ein Referendum über die neue Verfassung ab. Beendet wird die Parlamentsdebatte über eine neue Verfassung am 27. März, nachdem das Präsidium und die Fraktion des Fidesz über die Modifizierungen am Verfassungsentwurf beraten haben.
Unterdessen hielten die oppositionellen Sozialisten in der nordostungarischen Stadt Kazincbarcika ihre erste außerparlamentarische „Teilparlamentssitzung“ ab. Der MSZP-Politiker und stellvertretende Parlamentspräsident, István Újhelyi, sagte in Kazincbarcika, dass das Parlament in Budapest zurzeit vom Fidesz vereinnahmt werde. So werde dort dieser Tage ausschließlich über die Verfassung der Regierungsparteien diskutiert. Aus diesem Grund habe sich die MSZP-Fraktion dazu entschieden von Szeged bis Gy?r „Teilparlamentssitzungen“ abzuhalten. Der Vorsitzende der Sozialisten, Attila Mesterházy, sagte hingegen, dass seine Partei deshalb nicht am verfassunggebenden Prozess teilnehme, weil sie dort nur Statist wäre. Darüber hinaus wolle die MSZP nicht bei der Schaffung einer archaischen, rückwärtsgewandten Verfassung assistieren, die der Entwicklung Ungarns zuwiderlaufe.