Ungarische Politik von Zigeunermusik durchdrungen
Leider wird das Leben des Menschen von rührseligen Ohrwürmern begleitet. Warum das Angenehme bisweilen schmerzt, habe ich erst verstanden, nachdem ich die Philippika von Béla Hamvas (ungarischer Philosoph und Schriftsteller; 1897-1968) gegen die Zigeunermusik und die Kultur der Zigeunermusik im Allgemeinen gelesen hatte: „Die Musik hat ohne Rausch keinen Sinn. In der Zigeunermusik indes gibt es keinen Rausch, sondern eine schändliche Selbstgefälligkeit in der äußersten, schäbigsten Verkommenheit.
Inspirationsquelle Zigeunermusik: Findet sich auch in hochtrabenden Parlamentsreden wieder.
(…) Die Zigeunermusik ist letzten Endes unmusikalisch und vor allem eine Musik für Banausen. (…) Die Zigeunermusik hat die hochtrabenden und salbungsvollen Parlamentsreden durchdrungen, ja die akademischen Ansprachen, und sie spricht nahezu aus jeder Geste im öffentlichen Leben, wenn es um das Schicksal des Volkes und der Nation geht. (…) Der schrille Pathos der Zigeunermusik hat die Schauspielerei vergiftet, sie hat auf der Bühne einen prätentiösen Stil geschaffen, und sie hat in der Malerei Bilder hervorgebracht wie jene von Bertalan Székely (1835-1910) und Mihály Munkácsy (1844-1900). (…) Sogar die Statuen auf den öffentlichen Plätzen gestikulieren in Zigeunermusik-Pose.“ Also sprach Hamvas…, und er hat recht. Fügen wir hinzu: Dieser Stil hat – neben anderen Giften – auch die Literatur und Architektur verseucht, angefangen von Albert Wass bis hin zu Vajdahunyad im Városliget (Stadtwäldchen).
Ich lese die Präambel des Entwurfs der neuen Verfassung. (…) Entnehmen wir daraus zwei Erklärungen: „Wir sind stolz auf unsere Ahnen, die für den Fortbestand, die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Landes gekämpft haben.“ „Wir haben Vertrauen in die gemeinsam gestaltete Zukunft und in die Berufung der jungen Generationen. Wir glauben daran, dass unsere Kinder und Enkel durch ihr Talent, ihre Ausdauer und ihre seelische Kraft Ungarn wieder groß machen werden.“ Der erste Satz ist zwar pathetisch, jedoch hat er einen konkreten Inhalt und einfachen Sinn. Die anderen zwei Sätze sind typischer Kitsch. Sie sind Zigeunermusik im Hamvasschen Sinne. (…) Sie sind effektheischend und gähnend leer. Sie wurden vollgestopft mit laut krachenden Knallkörpern, womit der Sinn ihrer Existenz auch schon erschöpft ist. Und genau hier zeigt sich das jahrhundertealte Problem ungarischer Politiker: Ihr ästhetisches Gespür lässt zu wünschen übrig. Freilich: nicht nur das der Ungarn. Die untere Erklärung beispielsweise ist im europäischen Sinn zwar politisch korrekt (PC1), sogar politisch cool (PC2), gleichwohl ist sie ebenso wenig zu deuten wie ein Fabergé-Ei, wobei sie zweifelsohne ebenso bunt schillernd ist: „Wir glauben daran, dass die Grundlage menschlicher Existenz die menschliche Würde ist.“ Uff.
Ich stimme mit der berühmten Kitsch-Theorie von Hermann Broch nicht überein, wonach jedes Kunstwerk, das direkt auf die Schönheit abzielt, unweigerlich zu Kitsch wird. Wahr daran ist aber, dass das Schöne, das Anziehende essentiell mit dem Wahren, Aufrichtigen und Tiefen zu tun hat. Die Oberflächlichkeit, Schlampigkeit und der kurzlebige Charakter der zitierten Sätze ist augenfällig. (…) Sie können mithin weder wahr noch aufrichtig noch tief sein. Aus diesem Grund ist ihre Harmonie ohrenbetäubend, ihr Stil dünkelhaft. Natürlich hatten es die Politiker nie leicht. Laut Broch ist der Kitsch zwar auf die Romantik zurückzuführen, das heißt er hielt im Zeitalter der Romantik in die Politik Einzug, mitsamt Wagner, Offenbach, Napoleon, dem bayrischen Ludwig, Kaiser Wilhelm und den anderen Operettenfiguren. Doch reichen die Anfänge dieser Geschichte eigentlich noch weiter zurück. Wenn wir Thukydides aufschlagen und die berühmte Grabrede des Perikles lesen, die wir gut und gerne als Präambel der Athener Verfassung betrachten können, ist es leicht möglich, dass wir bei dem einen oder anderen Satz von starkem Widerwillen übermannt werden, dessen Gründe uns nunmehr bekannt sind. (…) Behaupten wir also nicht, dass der selbstgefällige, die Hörerschaft einlullende und sentimentale Stil eine moderne Erfindung ist. Doch wird unsere Präambel davon auch nicht lesenswerter. Und noch etwas: Um sich über bloße Phrasen erheben zu können, benötigt ein Politiker vor allem eines: einen Anlass. Wenn dieser fehlt, ist auch die Erzwingung eines solchen kitschig. (…) Die ästhetische Tragik der jetzigen Präambel liegt wohl gerade darin: Dem Anlass haftet etwas hoffnungslos Erzwungenes an.“
Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Corvinus-Universität. Der hier abgedruckte Text erschien am 17. März 2011 in der Wochenzeitung Magyar Narancs.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar