„Wie kann man das alles entschädigen?“
Auschwitz, Holocaust, Antisemitismus – jedem dürften diese Begriffe bekannt sein. Doch wer weiß heute eigentlich noch, was sich wirklich hinter ihnen verbirgt, was sie jenseits ihrer lexikalischen Definition bedeuten? Es gibt mittlerweile immer weniger noch lebende Zeitzeugen. Éva Pusztai ist eine von ihnen.
Eine von 437.000: Éva Pusztai gibt den die menschliche Vorstellungskraft sprengenden Opferzahlen ein Gesicht.
Ihren Besuch am vergangenen Donnerstag an der Deutschen Schule Budapest, dem Thomas-Mann-Gymnasium, werden die Schülerinnen und Schüler der 9. und 10. Klassen wohl nicht so schnell vergessen. Ruhig, freundlich und gefasst wirkt die bereits 85-jährige, aber rüstige Frau, als sie in schlichtem Schwarz gekleidet vorne in der Aula Platz nimmt.
Lange hatte sie über ihr Schicksal geschwiegen, zu traumatisch waren die Erinnerungen. Allerdings waren die Deportation aus ihrer Heimatstadt Debrecen nach Auschwitz-Birkenau im Juni 1944 und die anschließende Zwangsarbeit in einer Granatenfabrik bei Allendorf in ihrem späteren Leben nicht von alltäglicher Bedeutung, wie sie selbst sagt. Es gab einfach genug andere Sorgen. Jene Monate des Martyriums, welches sie als gerade einmal 18 Jahre altes Mädchen durch- und überlebt hat, haben sie für immer gezeichnet.
Seit 2004 besucht sie regelmäßig Schulen. Außerdem hat sie ihre Erinnerung auch in Buchform veröffentlicht. Im Juni soll ihr Buch in Berlin vorgestellt werden. Auf die Frage, warum sie nun doch begonnen habe, öffentlich über ihr Schicksal zu sprechen, antwortete sie ganz besonnen: Wenn sich die Schüler in einem Monat an „nur einen einzigen Satz von mir erinnern“, dann wäre der Besuch bereits nicht vergebens gewesen.
Éva Pusztai gibt den Opfern ein Gesicht. Es sind nicht die monströsen Zahlen, die in Erinnerung bleiben, wie beispielsweise, dass damals rund 437.000 jüdische Ungarn binnen 51 Tagen aus ihrer angestammten Heimat nach Auschwitz deportiert wurden, wobei 340.000 von ihnen innerhalb weniger Tage nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Jene Zahlen sind von so ungeheuerlichem Ausmaß, dass sie den Rahmen menschlicher Vorstellungskraft sprengen, sie bleiben unwirklich, ungreifbar.
Éva Pusztai und ihr Schicksal dagegen sind sehr wohl greifbar, weil sie persönlich und dadurch nah sind. Etwas, das so kein Lehrer zu vermitteln vermag. Erst durch sie, die ihren Leidensweg stellvertretend für die übrigen Tausenden und Abertausenden an Deportierten erzählt, wird klar, was das Wort Holocaust wirklich bedeutet. Mit plastischen Beispielen führt sie den Schülern vor Augen, wie es war, den alltäglichen Horror ertragen zu müssen und ums nackte Überleben zu kämpfen, denn „nichts war billiger als ein Menschenleben.“
Ein Schüler stellte die Frage nach Entschädigungen. „Wie kann man das alles entschädigen?“, wiederholt sie mehrfach ihre rhetorische Gegenfrage. Der unmenschliche Transport in mit 80 Personen vollgepferchten Viehwaggons, die endlosen Schikanen im KZ, der selbstgefällige Zynismus der SS-Aufseher, die grausame Zwangsarbeit in der Granatenfabrik und der Verlust von allem, das sie einst besaß – materiell wie menschlich. Insgesamt fielen knapp 50 Mitglieder ihrer Familie dem Rassenwahn der Nationalsozialisten zum Opfer, darunter auch ihre kleine Schwester und ihre Eltern. Als sie nach der Befreiung in ihr Elternhaus zurückkehren wollte, fand sie es völlig verwahrlost und von Fremden bewohnt vor. „Wie kann man das alles entschädigen?“
Trotz aller Geschehnisse empfindet sie heute keinen Hass. Die jetzige dritte Generation nach dem Krieg könne sie unmöglich dafür hassen, was damals passiert sei. Außerdem habe sie bereits genug Hass erlebt. Nein, das Höchste, was sie den Schüler wünschen könne, sei ein Leben ohne Angst. Ohne jene Angst, welche während ihrer Gefangenschaft für sie allgegenwärtig war. Eine bemerkenswerte Einstellung einer bemerkenswerten Frau.