Für Krone und Vaterland
Nun ist es also so gut wie amtlich – die Heilige Stephanskrone wird Teil der neuen ungarischen Verfassung. Neben anderen Neuerungen, die im europäischen Raum ziemlich verquer anmuten, soll also ein kulturhistorisches Objekt in die Präambel des neuen Grundgesetzes aufgenommen werden. Geht es nach der Mehrzahl der Rechtsgelehrten, dann sollte die Präambel einer Verfassung die herausragenden Staatsziele eines Landes beinhalten und dem Verfassungsgericht als Interpretationshilfe zur späteren Auslegung des Grundgesetzes dienen.
Der Geltungsbereich der Krone damals wie heute: Ungarn vor 1918 (blau).
Dass die Heilige Stephanskrone in die Präambel der neuen Verfassung eingeschrieben wird, kommt nicht von ungefähr. In Ungarn gibt es sogar eine „Lehre der Heiligen Krone“, die von einem – wenn auch kleinen – Teil der Gesellschaft als einer Verfassung ebenbürtig betrachtet wird. Im Folgenden nehmen wir diese „Lehre“ unter die Lupe:
Die „Lehre der Heiligen Stephanskrone“ datiert auf das 15. Jahrhundert zurück. Obwohl sich bis heute viel an ihr verändert, ist in ihrer historischen Entwicklung eines aber stets konstant geblieben: Der Grundsatz, dass die Krone gleichbedeutend mit dem Staatsgebiet, dem Staatsvolk und der Staatsgewalt ist. Lediglich die inhaltliche Untermauerung hat sich diesbezüglich verändert. So wird die Krone zu einer Person im juristischen Sinne, wie es beispielsweise auch Firmen im Zivilrecht sein können.
Die „Lehre der Heiligen Krone“ lässt sich in fünf Grundwerte unterteilen:
1. Die Heilige Stephanskrone ist aufgrund ihrer Heiligkeit Träger der Macht. Der Legende nach hat Stephan I. der Heilige im Jahr 1038 seine Krone als Sinnbild für sein Königreich, das Karpatenbecken und alle dort Lebenden, der Heiligen Jungfrau Maria dargeboten. Dieser zwischen Himmel und Erde geschlossene Vertrag kann durch Menschen nicht gelöst werden, so die Lehre. Folglich geht die Macht von der Krone aus. Der König kann nur Ausführender dieser Macht sein, wenn er durch ein Krönungszeremoniell mit der Krone die Macht übertragen bekommt. Dies ist Voraussetzung für den zweiten Grundwert der Lehre der Heiligen Stephanskrone.
2. Die Heilige Stephanskrone steht für die Selbstbestimmung der Komitate. Daraus folgt eine Gewaltenteilung zwischen König und Komitaten. Dieser Gedanke enthält das Verbot einer absoluten Machtkonzentration beim König und kann als Vorläufer zur Gewaltenteilung von heute betrachtet werden.
3. Da aller Staatsreichtum der Heiligen Stephanskrone gehört, darf staatliches Eigentum nicht verkauft werden. Dies bezieht sich insbesondere auf den nationalen Boden und auf Wasser. Privatisierungen staatlicher Unternehmen sind demzufolge wohl auch verpönt.
4. Die Verfechter der „Lehre der Heiligen Krone“ sind der Auffassung, dass die Krone, sollte sie einer neuen Verfassung eingeschrieben werden, die Rechtsstaatlichkeit im Land wieder aufleben lassen würde. Sie argumentieren, dass nach der Wende 1989/90 in allen ehemaligen Ostblockstaaten neue Verfassungen verabschiedet worden seien. Ungarn hätte diese einmalige Chance damals verpasst. So habe das Land die „sozialistische Verfassung“ aus dem Jahr 1949 – wenn auch mit umfassenden Änderungen – beibehalten. Dieses Jahr soll das jahrzehntelange „Versäumnis“ nachgeholt werden. In den Augen der Fürsprecher einer „Lehre der Heiligen Krone“, aber auch unter vielen Konservativen und Christdemokraten, bedeutet die Einschreibung der Heiligen Krone in die Verfassung nicht zuletzt Folgendes: Es wird ein quasi-verfassungsrechtlicher Bogen in die historische Periode Stephan I. des Heiligen, dem Staatsbegründer Ungarns, gespannt.
5. Die Heilige Krone gibt die moralischen Werte vor. Was Gut und Böse ist, geht aus ihrer „Lehre“ hervor.
Der fünfte Grundwert wirft unweigerlich die Frage auf, wie ein kulturhistorisches Objekt zu einer moralischen Instanz erwachsen kann? Der Jurist und Politologe Zoltán József Tóth gab in einem kürzlich gehaltenen Vortrag auf Einladung des Historischen Salons in Ungarn eine Antwort. Laut Tóth ist eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse sehr einfach anzustellen: „Was Gut und Böse ist, wissen wir durch unser Verhältnis zu Gott, der Welt und uns.“ Die Krone gehöre in die Präambel der Verfassung, weil sie hierfür Richtlinien gibt, so Tóth.
Bei einem anderen brisanten Thema, der Frage nach dem Recht auf Leben zeigen sich die Vertreter der „Lehre“ ebenfalls kompromisslos. Das Leben beginne im Moment der Empfängnis. Punkt. Widerspruch wird diesbezüglich nicht geduldet.
Kritisiert wird von den Anhängern der „Lehre der Heiligen Krone“ auch die wiederholte Praxis des Verfassungsgerichts, eigene Grundsatzentscheidungen zu revidieren. Tóth vergleicht dies mit der Willkür in Diktaturen. Dass selbst Grundsatzurteile nicht für die Ewigkeit gelten und neu verhandelbar sind, erteilt Tóth eine Absage. In seinen Augen ist dies einzig und allein der „Willfährigkeit der liberalen Verfassungsgerichte“ geschuldet. Gerade diesen Makel merze die Krone in der Verfassung aus, da Gut und Böse klar definiert und mithin keine Verhandlungen nötig seien, meint Tóth.
Wie die Zeitung Népszabadság jüngst berichtete, soll nach den Plänen der Verfassungsgeber die Präambel der neuen Verfassung neben der Heiligen Krone auch das Bekenntnis zum Christentum und eine Ehrung der Opfer des Aufstands von 1956 beinhalten. Allerdings sollen die Staatsziele nicht in einer „Präambel“ festgehalten werden. Geplant ist eine Umbenennung in „Nemzeti hitvallás“. Dies bedeutet frei übersetzt „Nationales Glaubensbekenntnis“.
Träger der Macht aufgrund ihrer Heiligkeit: Wappen der Stephanskrone.