„In Ungarn gibt es keine Demokratiekrise“
Neben den vielen bekannten, eher wirtschaftlichen Problemen, wie die hohe Staatsverschuldung und die zu geringe Beschäftigungsrate, hat Ungarn auch schwerwiegende politische Probleme. Nicht zuletzt die Unfähigkeit und Unwilligkeit der Vertreter verschiedener politischer Lager, ihre Meinungsverschiedenheiten im offenen Wettbewerb der Argumente direkt und gesittet miteinander auszutragen. Letzten Mittwoch bot der Deutsche Wirtschaftclub (DWC) das Forum für einen solchen Wettbewerb.
Bei der Podiumsdiskussion des Deutschen Wirtschaftsclubs Budapest wurde gut zwei Stunden lang intensiv über die Frage „Quo Vadis Magyarország?“ nachgedacht.
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Quo Vadis Magyarország?“ machten sich Vertreter von Regierung und Opposition in entspannter Atmosphäre Gedanken über die Lage und Aussichten ihrer Heimat. Die Regierung wurde dabei von Zoltán Kovács (Fidesz), Staatssekretär im Ministerium für öffentliche Verwaltung und Justiz, vertreten. Unterstützt wurde er vom Medienjuristen Márk Lengyel.
Counterpart der beiden war ein weiterer Kovács, nämlich das MSZP-Urgestein László Kovács, derzeit Vize seiner Partei und vormals unter anderem Parteichef, Außenminister und EU-Kommissar, um nur die wichtigsten seiner zahlreichen ehemaligen Funktionen zu nennen. Die Moderation des Abends oblag Frau Ellen Bos, Leiterin der Doktorschule an der Andrássy-Universität Budapest. Flankiert wurde die Runde durch die DWC-Vorstandsmitglieder Arne Gobert (Rechtsanwalt bei der Anwaltskanzlei Gobert, Fest & Partners) sowie Jan Mainka (Herausgeber der Budapester Zeitung und Budapest Times).
Eröffnet wurde der Abend vom DWC-Vorsitzenden Manfred Bey, der in seiner Begrüßungsansprache keinen Hehl aus seiner Freude darüber machte, dass dem Club die schöne Aufgabe zugefallen ist, einmal die Bühne für eine der seltenen, außerhalb des Parlaments stattfindenden Begegnungen von Regierung und Opposition abzugeben. Sodann hatten die Vertreter der Diskussionsrunde das Wort. Im Wesentlichen wurden in den folgenden gut zwei Stunden die Themen Krisenbewältigung, Strukturreformen, Demokratie und Mediengesetz systematisch abgehandelt.
Lesen Sie im Folgenden einige Auszüge aus den Beiträgen, wobei natürlich die Meinungen der beiden Spitzenpolitiker den Vorrang genießen. Da Zoltán Kovács als Regierungsvertreter häufiger um seine Meinung gebeten wurde als László Kovács, ist der Staatssekretär auch unter den nachstehenden Auszügen überproportional vertreten. Zunächst die Eröffnungserklärungen:
Staatssekretär Zoltán Kovács: „Die neue Verfassung wird auf dem Boden der europäischen Werte stehen.“
Zoltán Kovács: Vor neun Monaten gab es ein – selbst mit Blick auf das ungarische Wahlsystem – ungewohntes Ergebnis: Eine Parteienallianz aus Fidesz und KDNP errang eine Zweidrittelmehrheit, mit der sie sich auf den Weg machen konnte, die Aufgaben abzuarbeiten, die teilweise schon seit langem bekannt waren beziehungsweise sich aus den Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre ergaben. (…) Unsere Ziele sind außerordentlich ambitiös. Hinter ihnen steht vor allem die Erkenntnis, dass unser Land irgendwo vom Weg abgekommen ist, sich verirrt hat. Nach unserer Sicht ist unser Land an einen Scheideweg angelangt, an dem wir mit der auf Illusionen und bloßen Worten beruhenden Politik brechen müssen. Stattdessen müssen jetzt Taten und eine echte Umgestaltung die Hauptrolle spielen. Eine besondere Bedeutung hat die Forderung mit Blick auf die vergangenen acht Jahre, in denen Ungarn seine Führungsrolle in der Region eingebüßt hat und zu einem der Schlusslichter Europas wurde. Es kam sogar zu so bedauerlichen Ereignissen wie 2006, als sich die Regierung gegen das eigene Volk wandte. (…) Wir haben mit der Entschlossenheit das Regierungsruder übernommen, die Neugestaltung des Landes mit voller Kraft voranzutreiben und die Aufgaben zu erledigen, denen sich in den letzten zwanzig Jahren keine Regierung stellen wollte oder konnte. Wir wollen die Bedingungen für eine nachhaltige Entwicklung Ungarns schaffen, eine Entwicklung, die in jeder Beziehung den Normen entspricht, zu denen sich Ungarn auch bisher schon bekannt hat beziehungsweise den Erwartungen, denen Ungarn als Mitglied der EU und zahlreicher weiterer internationaler Organisationen entsprechen möchte.
László Kovács: In einer Sache stimme ich mit dem Staatssekretär sicher überein, nämlich, dass solche Begegnungen sehr nützlich sind. (…) Wenn mich damals zur Zeit der Beitrittsverhandlungen jemand gefragt hätte, wie weit Ungarn noch davon entfernt ist, ein sich völlig harmonisch in die Gemeinschaft einfügendes Mitgliedsland zu werden, dann hätte ich gesagt: „Nicht mehr so weit. Wir sind ja schon auf der Schwelle!“ Wenn ich heute gefragt würde, würde ich sagen, dass wir uns von diesem Zustand entfernt haben. (…) Über eine erst seit zehn Monaten im Amt befindliche Regierung kann man noch kein endgültiges Urteil sprechen. Unsere ernsten wirtschaftlichen Probleme sind weiterhin ungelöst und haben sich teilweise sogar noch weiter zugespitzt. Die sozialen Unterschiede haben sich bedeutend vergrößert. Die Schere zwischen den oberen zehn Prozent und dem Rest der Bevölkerung wurde größer. Für viele haben sich die Lebensbedingungen verschlechtert. Der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wurden ernsthafte Schäden zugefügt. Die internationale Position Ungarns wurde ein wenig erschüttert, was ich als ehemaliger Außenminister besonders schmerzhaft empfinde. Vertrauen wir darauf, dass Ungarn auf den richtigen Weg zurückfindet! Denn der derzeitige Weg ist gewiss nicht der Weg, der den Interessen der großen Mehrheit des ungarischen Volkes entspricht. Im Übrigen, was die vorherigen acht Jahre betrifft: Der Fidesz hätte nicht so deutlich gewonnen, wenn in unseren acht Jahren alles einwandfrei gelaufen wäre. Zweifellos: Die Reformen, die die vorherigen Regierungen vorhatten, wurden nur verkündet, gelangten aber nicht zur Ausführung. Das hatte auch mit dem harten Wiederstand der damaligen Opposition zu tun. Der zweite Grund ist die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, die selbst die stärksten Länder in Mitleidenschaft gezogen hat. Zwischen Regierung und Opposition gab es einen Dissens bezüglich der Frage, wie dem Land zu helfen sei. Die damalige Opposition behauptete nicht durch Sparen, sondern durch Steuersenkungen und Konjunkturprogramme. Meiner Meinung nach wäre dieser Weg ein selbstmörderischer geworden. Als späte Genugtuung sehe ich jetzt, dass auch die amtierende Regierung nicht umhin kommt, den von uns eingeschlagenen Weg des Sparens zu beschreiten. (…) Den Vorwurf, dass sich die Regierung 2006 gegen das eigene Volk gewandt hat, kann ich nicht im Raum stehen lassen. Sie hat sich nicht gegen das eigene Volks gewandt, sondern gegen Demonstranten, die nicht mit friedlichen Absichten demonstrierten. In meiner Zeit in Brüssel habe ich viele derartige Zusammenstöße erlebt, zwischen der Polizei des demokratischen belgischen Staates und gewissen Demonstranten.
Arne Gobert: Das große Bild, das Ungarn gegenüber vielen Investoren bietet, gibt Anlass für eine gewisse Verunsicherung. Diese ist teils so stark, dass sie sogar durchaus existierende gute Nachrichten verschluckt. Wenn man heute im Ausland internationalen Investorenkonferenzen zu Ungarn beiwohnt, dann wird man nicht in erster Linie danach gefragt, wie hoch denn etwa der Körpersteuersatz sei oder welche Investitionsanreize man bekommen könne, sondern wie es mit der Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit aussehe. Ich denke, wenn bei einem Land, das Mitglied in der EU ist, solche Fragen ganz oben auf der Tagesordnung stehen, dann gibt es irgendwo ein kleines Problem. Entweder hinsichtlich der Außendarstellung oder der Realität. Da stellen sich mir zwei Fragen: Ist die Verunsicherung gerechtfertigt und was kann man dagegen tun? Ich denke, es ist für uns alle wichtig, dass Ungarn ein attraktiver Investitionsstandort bleibt, dass Investoren gerne hierherkommen, dass sie hier investieren und nicht in den Nachbarländern. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass etwas getan werden muss, wenn ein Staatshaushalt in Schieflage geraten ist. Die Frage ist aber, wie diese Maßnahmen angegangen werden. Wenn beispielsweise rückwirkend Steuern erlassen werden, kann dies Ungarns Image einen schweren Schaden zufügen und verhindern, dass mehr Investitionen nach Ungarn kommen.
Ellen Bos: Sind die Maßnahmen der Regierung gegen die Wirtschaftskrise effektiv?
Zoltán Kovács: Im Mai 2010 übernahm die neue Regierung unter scheinbar geordneten Verhältnissen die ungarische Wirtschaft. Schnell stellte sich aber heraus, dass der letztjährige Haushalt nicht zu halten war. Daher mussten wir zu drastischen Maßnahmen greifen. (…) Die Krise hat Ungarn 2008 in einem sehr verwundbaren Zustand erwischt. Deswegen waren auch ihre Folgen viel schwerwiegender. Die Krise hat nicht bloß gezeigt, dass die ungarische Wirtschaft krank ist, sondern auch, dass es viele nicht nachhaltige Strukturen gibt. Sie hat aber auch gezeigt, dass nicht nur innerhalb der Wirtschaft ernste Probleme existieren, sondern auch die juristischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbesserungsbedürftig sind. Ein besonderes Problem sehe ich in der Institutionalisierung der Korruption. Auf jeden Fall haben all die vorgefundenen Bedingungen, die von uns bisher unternommenen Schritte erfordert und gerechtfertigt. Die Maßnahmen der letzten neun Monate haben verhindert, dass das Haushaltsdefizit auf über sieben Prozent empor klettert. Wir brauchen wieder mehr Rechtssicherheit. Mit Blick auf die Praxis halte ich eine Revision des hiesigen Rechtssystems für unbedingt notwendig. In diesem Kontext finde ich auch die Erarbeitung einer neuen Verfassung erforderlich. (…) Im Übrigen finde ich es durchaus nicht normal, wenn die Polizei auf friedliche Demonstranten schießt – wie auch unabhängige Experten bestätigt haben. So etwas darf es in einem demokratischen Land nicht geben!
MSZP-Vize László Kovács und Moderatorin Ellen Bos, Dozentin an der Andrássy-Universität.
László Kovács: Anfang September äußerten sich führende Vertreter der Regierung noch dahingehend, dass Ungarn eine der stabilsten Volkswirtschaften der Welt sei. Angeblich herrschten in der Wirtschaft geordnete Verhältnisse. Dann war plötzlich von einem über sieben Prozent ausufernden Defizit die Rede. (…) Wenige Wochen nach der Wahl hat sich Premier Orbán damit gebrüstet, dass Ungarn innerhalb der EU Rekordhalter bei der Defizitverminderung sei. Das unterschreibe ich gerne. Es ist aber ein Verdienst der Bajnai-Regierung. (…) Jetzt sieht es so aus, dass das Budget zwar kurzfristig durch Sondereinnahmen, wie dem Erlass der Sondersteuern und der Enteignung der privaten Rentengelder, gerettet werden konnte. Ich habe aber die Sorge, dass – wenn die ungarische Regierung in Kürze das Konvergenzprogramm einreicht – die EU-Kommission Zweifel an dessen Nachhaltigkeit anmelden wird. Wenn es keine Strukturreformen gibt, dann wird all den verabschiedeten Maßnahmen ein nur vorrübergehender Erfolg zuteil.
Zoltán Kovács: Die Rentenkassen, um die es geht, waren keine echten privaten Rentenkassen. Die echten privaten Rentenkassen werden in Ungarn von niemandem angerührt. Wir respektieren sie und unterstützen ihre Existenz. Das System der individuellen Ansparungen ist ein wichtiger Pfeiler des ungarischen Rentensystems. Das Problem sind aber die obligatorischen privaten Rentenkassen. Von diesem System hat sich in Ungarn herausgestellt, dass es nicht gut funktioniert. Es entzog der ersten, staatlichen Säule des Rentensystems, bedeutende finanzielle Mittel. Es geht also um einen Schritt, der schon längst hätte getan werden müssen. Die daraus stammenden Einnahmen werden wir nicht verspekulieren, sondern werden sie zur Senkung der Staatsverschuldung verwenden.
László Kovács: Es geht bei der kritisierten Säule um Eigenvorhersorge. Seinerzeit stimmte der Fidesz meiner Erinnerung nach mit der Schaffung dieser Säule des Rentensystems überein. Noch kürzlich hatte sogar Viktor Orbán festgestellt, dass das Problem mit dem Rentensystem für die kommenden dreißig Jahre gelöst sei, es auf drei soliden Pfeilern ruhe und man nicht eingreifen müsse. Inzwischen hatte man es sich anders überlegt, das Geld wurde eben benötigt. Es wäre eleganter gewesen und konsequenter, wenn die Mittel aus der halbstaatlichen nicht in die staatliche Rentenkasse umgruppiert worden wären, sondern in die freiwillige Rentenversicherung. Die Gelder wurden jetzt entnommen, man wird aber erst später sehen, wofür sie wirklich verwendet wurden. Im Moment sieht es so aus, als würden sie zur Deckung laufender Einnahmen benutzt und nur zu einem geringen Teil zur Senkung der Staatsverschuldung.
Ellen Bos: Wie sieht es mit den Strukturreformen aus?
Zoltán Kovács: Das Wort Reform mag ich nicht sehr, ich würde es lieber Paradigmenwechsel nennen. Wir haben diesbezüglich eine andere Herangehensweise als die vorherige Regierung. Es ist nicht ausschlaggebend wie viel im Einzelfall gespart werden kann, sondern, dass Systeme entstehen, die rationaler, sparsamer und effizienter funktionieren. Und wenn sich entlang dieser Schritte auch Spareffekte ergeben, dann umso besser. Die Erneuerung Ungarns bedeutet nach unserer Auffassung, dass alle Versorgungssysteme selbsterhaltend funktionieren und sparsam im Umgang mit Steuergeldern sein müssen. Außerdem sollten sie den Erwartungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts entsprechen. (…) Wenn wir von Paradigmenwechsel sprechen, muss man auch sehen, dass es nicht nur um Ungarn geht. (…) 2008 war ein schweres Warnzeichen für EU. Das Leben so fortzusetzen wie gewohnt, geht mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr. Es finden große Umschichtungen und Umorganisierungen in der Weltwirtschaft statt. Europa steht dabei nicht gut da. Die Schritte, die Ungarn, teils als Mitglied der EU und teils als ein in der Krise befindliches mitteleuropäisches Land unternimmt, sind also nicht nur im nationalen, sondern auch internationalen Kontext zu sehen. Für Ungarn gab es mit der Krise von 2008 keine großen Möglichkeiten, einen anderen Weg zu beschreiten als den eingeschlagenen. Für ein Land, in dem die Verschuldung bei über 80 Prozent liegt und dass nach Malta die geringste Beschäftigungsquote aufweist, sind die klassischen Rezepte nicht anwendbar. Deshalb versucht die Regierung mit der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Verminderung der Staatsverschuldung aus der gegenwärtigen prekären Lage auszubrechen. Die dabei im Einzelnen unternommenen Schritte kann man jetzt kritisieren, die letzten Jahre haben aber bewiesen, dass die klassischen Rezepte nicht funktionieren.
László Kovács: Was wir gegenwärtig erleben, ist keine Steuerreform. Das ist eine Steuerumverteilung. Es geht nicht einmal um größere Steuersenkungen, wie von der Regierung zuvor versprochen. In den Genuss von Steuersenkungen kommen nur Bürger mit einem Bruttoeinkommen von über etwa 300.000 Forint. Wessen Einkommen darunter liegt, für den führen die Änderungen zu einer Verminderung des Nettolohns. Das ist gesellschaftlich gesehen nicht gerade gerecht. (…) Was die selbsterhaltenden Verteilungssysteme betrifft, so höre ich mit Freude von den Plänen der Regierung. Seinerzeit wollte die Gyurcsány-Regierung dasselbe. Mit der Einführung der Praxisgebühr und Krankenhaustagegeldes sollte beispielsweise ein ganz bescheidener Schritt in Richtung eines selbsterhaltenden Gesundheitssystems gegangen werden. Der Fidesz machte diesem Ansinnen damals mit einem Referendum einen Strich durch die Rechnung. Auch das Bildungssystem sollte durch die Einführung von Studiengebühren auf eine gesündere finanzielle Basis gestellt werden. Auch dies wurde durch das Referendum vereitelt. Ich würde mich freuen, wenn die Regierung jetzt etwas in diese Richtung unternehmen würde. Egal, ob wir es nun Reform oder Neuordnung nennen. (…) Die Veröffentlichung der Strukturreformen scheint sich immer weiter zu verzögern. Dass wir als Opposition den Tag der Veröffentlichung ungeduldig herbeisehnen, ist das geringste Problem, aber die Investoren und internationalen Geldkreise wiegen schwerer. Ich hoffe, dass ihre Geduld noch etwas anhält.
Zoltán Kovács: Wenn Herr Kovács davon spricht, dass es sich nicht um eine Steuerreform handelt, dann muss ich ihm wiedersprechen. Es handelt sich um den Beginn einer Steuerreform, ja sogar einer Steuerrevolution, in deren Ergebnis wir bereits mittelfristig ein Land sehen wollen, das sowohl in Hinblick auf die Steuerlasten als auch die administrativen Belastungen von Unternehmen zu den wettbewerbsfähigsten Mitteleuropas zählen wird. Oder besser: Wieder zählen wird. Denn zur Jahrtausendwende unter der ersten Orbán-Regierung waren wir schon einmal so weit. Die Folgen der vergangenen acht Jahre zu beseitigen, wird nicht leicht sein. Herr Kovács wies darauf hin, was seine Regierung einst wollte. Bei uns befinden sich die Absichten aber nicht nur auf der Ebene von bloßen Wünschen, wir haben bereits mit ihrer Umsetzung begonnen. In den vergangenen zehn Monaten haben wir mehr als 170 Gesetzesnovellen durchs Parlament gebracht. Diese großen Veränderungen können aber freilich nicht ganz ohne die Verletzung von Interessen durchgeführt werden. (…) Eine Diskriminierung ausländischer Firmen kann ich nicht erkennen. Beim Erlass der Sondersteuern motivierte uns vor allem, dass sich auch die Segmente am Preis für die Erneuerung der Wirtschaft beteiligen sollen, die in den vergangenen Jahren sehr stark von den Vorzügen Ungarns profitiert haben.
Ellen Bos: Braucht Ungarn eine neue Verfassung?
Zoltán Kovács: In Ungarn gibt es keine Demokratiekrise. In den vergangenen zwei Monaten haben immense Kräfte daran gearbeitet, zu beweisen, wir hätten eine. Unsere Regierung muss sich aber in Sachen Demokratie nicht von solchen Ratgebern belehren lassen, die teilweise an der Leitung des alten Systems beteiligt waren. Die ungarische Wende war eine samtene. Sie ließ aber zahlreiche Probleme offen, die bis heute ihrer Lösung harren. Man kann lange Prozesse nicht überspringen. Wenn wir im Fall von Ungarn von einem Demokratiedefizit sprechen, dann hat das weniger mit den aktuellen Maßnahmen zu tun, sondern mit der Struktur, in denen vierzig Jahre Kommunismus nachwirken. Ungarn muss aus eigener Kraft mit diesem Erbe fertigwerden. Deshalb brauchen wir auch eine neue Verfassung.
Arne Gobert: Ich beziehe nicht gern zur Verfassungsdiskussion Stellung. Das ist eine wirklich ungarische Frage, zu entscheiden, wie man zur Geschichte steht und was man mit einer neuen Verfassung ausdrücken möchte. Für das Selbstverständnis eines Landes kann es manchmal durchaus wichtig sein, eine neue Verfassung zu erlassen. Entscheidend ist, was man mit dem Rahmen anfängt. (…) Ein Verfassungsgericht ist Teil einer Gewaltenteilung. Eine abstrakte und konkrete Normenkontrolle. Für mich ist es ein Ausdruck der Demokratie. Die Gerichte als Teil der Gewaltenteilung mit dem Verfassungsgericht oben drauf, sind das wichtigste Element, um Rechtssicherheit dokumentieren zu können.
László Kovács: Als wir 1994 72 Prozent der Mandate erzielten, sprachen wir uns dafür aus, dass man mit zwei Drittel nicht die Verfassung ändern kann. Wir waren stattdessen für eine Grenze von mindestens Vier Fünfteln. Wir haben uns also selbst begrenzt. (…) Heute bewegt sich Ungarn de facto in Richtung Einparteiensystem.
Ellen Bos: Wird auf dem Weg zur neuen Verfassung auch nach einem Konsens über das Fidesz-Lager hinaus gesucht?
Zoltán Kovács: Zuerst wollte die MSZP 1994 die Verfassung ändern. Nicht zuletzt deshalb, weil die zu dem Zeitpunkt und auch heute noch gültige, zur Wende modifizierte Verfassung nur als provisorische Verfassung gedacht war. Dieser Fakt wird von den Sozialisten heute geflissentlich übersehen. (…) Aber es handelt sich immer noch nur um eine veränderte Variante einer in ihrem Kern stalinistischen Verfassung. Schon allein aus symbolischen Gründen ist es deshalb höchste Zeit, sie zu ändern. (…) Meiner Erinnerung nach kam es 1994 nicht wegen der Selbstbeschränkung zu keiner Änderung der Verfassung, sondern wegen Problemen mit dem Koalitionspartner. Die Idee einer neuen Verfassung stand auch 2002, zu Beginn der Medgyessy-Regierung, auf der Tagesordnung. Es fehlte damals nur die notwendige Zweidrittelmehrheit. (…) Abgesehen von der symbolischen Komponente sprechen auch zahlreiche weitere Gründe, bei einer der Zukunft zugewandten Regierung, für eine Änderung der Verfassung. (…) Zur neuen Verfassung möchte ich drei wichtige Dinge hervorheben. Erstens: Die Verfassung wird auf dem Boden der europäischen Werte stehen und die Europäische Grundrechtecharta respektieren. Zweitens: Es wird durch sie zu keinerlei größeren institutionellen Veränderungen kommen. Die Institutionen, die im Rahmen des demokratischen Ungarns entstanden sind, werden in Ehren gehalten. Drittens: Ein Passus der neuen Verfassung wird verhindern, dass sich Ungarn noch einmal bis an den Rand des Zusammenbruchs verschuldet.
Ellen Bos: Wird es im Interesse einer größeren Legitimität der neuen Verfassung eventuell ein Referendum über sie geben?
Zoltán Kovács: Wie der gesamte Verfassungsschöpfungsprozess ist auch die Frage eines Referendums noch offen. Die Regierung ist nur im technischen Sinne Teil des Prozesses. Wir werden jedweder politischer Kraft jedwede Hilfe angedeihen lassen, die von einer Regierung in einer solchen Situation zu erwarten wäre. Die Verfassungsänderung ist Sache der Parlamentarier. Meine private Meinung zur Frage eines Referendums – ich bin ja nicht Mitglied des Parlaments – ist folgende: Eine Verfassungsänderung ist für ein Referendum, bei dem es praktisch nur um ein „Ja“ oder „Nein“ geht, eine zu komplexe Materie. Ich würde die Entscheidung lieber dem Parlament überlassen. (…) Ich bin übrigens nicht der Meinung, dass Vierfünftel oder eine noch stärkere Unterstützung notwendig sein sollten, um eine Verfassung zu ändern. Die Kräfteverhältnisse, die heute im Parlament existieren, sind nicht zufällig entstanden. Sie sind Ausdruck des Wählerwillens. Sie sind aber übrigens auch nicht dergestalt, dass man eine Wiedergeburt des Einparteiensystems fürchten müsse. Die Wählergunst kann sich auch wieder ändern und bei den kommenden Parlamentswahlen zu einer komplett anderen Kräftekonstellation im Parlament führen. Die regierenden Parteien wissen, dass die momentane Zweidrittelmehrheit nicht nur eine Möglichkeit, sondern auch eine riesige Verantwortung ist. Bei ihrer ungenügenden Wahrnehmung müssen gegebenenfalls auch die negativen Konsequenzen akzeptiert werden.