Buchpremiere des Märchenkaters in Budapest
Ein Siemens-CFO und promovierter Volkswirt, der nebenberuflich Kater ist und Märchenbücher schreibt? Das passt genauso wenig wie ein mit Säbeln bewaffneter, bärbeißiger Räuber ? la Hotzenplotz nebst obligatorischem Schnupftabak im digitalen Zeitalter – meint man. Bei seiner Lesung am 5. Dezember bewies Autor Marec Béla Steffens das Gegenteil.
Schon nach dem ersten der 32 Kapitel in der Kapelle der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde im Budaer Burgviertel war klar: „Der Räuber Thymian ist ein Gemütsmensch“. Vielleicht macht ihn das so sympathisch, ihn, der doch eigentlich ein gefährlicher Verbrecher ist, der mit den altbekannten Mitteln der Räuberkunst tut, was ein zünftiger Räuber eben tun muss: einen Postraub hier, einen Überfall dort, Diebstähle und natürlich Entführungen, je nach Gemütszustand mit oder ohne Lösegeldforderung.
An seinem Beruf schätzt der rotbärtige Räuber vor allem den Umgang mit Menschen. Man müsse jedoch mit der Zeit gehen, in der alles unpersönlicher werde, eben auch der Räuberberuf, und die meisten Kunden ihre Bankgeschäfte im Internet tätigen. Doch wie soll er mit seinen „zwei Pistolen und den drrrei Messerrrn denn ins Interrrnet gehen?“, knurrt Thymian, gefährlich das „r“ rollend. Abhilfe schafft der Weiterbildungskurs „Betrug im Internet – leicht gemacht“ im Haus der Räuberzunft. Angeblich sind Vorkenntnisse des World Wide Web für die Eleven nicht erforderlich; sie schaden jedoch nicht, wie sich zeigt, packen doch Räuber der alten Schule das Stemmeisen aus, wenn es darum geht, ein Passwort zu knacken und die Pistole, um Sicherheitsserver einzuschüchtern.
Zum Glück weiß der raffinierte Thymian auch andere Wege, um an Geld zu kommen. Statt Informatik von heute und brachialer Gewalt von gestern setzt er auf Chemie und Biologie. So müssen Geldautomaten nach Verabreichung von Brechmitteln ihren monetären Inhalt im wahrsten Sinne des Wortes ausspucken. Damit die armen keine Krämpfe bekommen, gibt ihnen der mitleidige Räuber im Anschluss Magentropfen, zuvor noch ein kleines Beruhigungsmittel, gegen den Alarm.
Jedoch raubt Thymian nicht, um Reichtümer anzuhäufen, wie Verleger Alfred Büngen bemerkt, sondern er ist ein Räuber mit Wertvorstellungen und Räuberehre. Von Zunft wegen und weil er Urenkel des großen Räuber Jaromirs ist, dem bereits Grillparzer seine Verse widmete. Doch auch ein solch großer Räuber muss sich Grenzen fügen. Vom abschreckenden Blutfleck, mit dem er seinen Loft und seine Höhle vor Einbruch schützen will, muss Thymian leider absehen – der Hausordnung wegen. Als einer der wichtigsten Steuerzahler der Stadt liefert der Räuber dem Finanzamt in braver Regelmäßigkeit seinen Anteil ab, schließlich müsse man doch zusammenhalten. Wo die jungen Leute heutzutage ja lieber gleich Wirtschaftsprüfer, Investmentbanker oder Steuerberater werden wollen, wie Thymian um die Nachwuchsprobleme der Räuberzunft weiß.
Witz und Einfallsreichtum zeichnen nicht nur die inhaltliche, sondern auch die sprachliche Dimension des Märchenkaters alias Steffens aus. Nach „Der Kater erzählt Märchen“, „Die Welt der Buchstaben“, „Der Straßenbahnschaffner von Venedig“ und „Die Briefmarke von Dublin und der Grabstein von Prag“ ist der „Räuber Thymian“ sein fünftes Märchenbuch. Die Illustrationen dazu gestaltete wie immer Krystyna Steffens.
„Der Räuber Thymian
– Denkwürdigkeiten
aus seinem Leben“
Erschienen im Geest-Verlag 2010
228 Seiten, 12 Euro
www.maerchenkater.de