Mittendrin im Nirgendwo
Im luftleeren Raum zwischen nördlichem Serbien und der Schweiz, zwischen ungarischer Minderheit in der Vojvodina und Großbürgerlichkeit am Zürcher See befinden sich die Schwestern Ildi und Nomi, mit ihren Eltern, ihren Emigrantenschicksalen, eingerahmt in und bestimmt durch die Geschichte Südosteuropas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ihre Zugehörigkeiten sind ihnen zunehmend unklar, nur Eines steht fest: Auf dem Balkan ist Krieg ausgebrochen.
Als kleine Mädchen folgen die beiden Schwestern ihren Eltern in die Schweiz, können erst nachkommen, als diese sich dort eine kleine Existenz aufgebaut haben. Das macht den Abschied von ihrer geliebten Mamika, der Großmutter väterlicherseits, noch schwerer, die in der Zwischenzeit für die Mädchen gesorgt hat. Gleichzeitig ist es Grund für eine nicht mehr aufzuholende Lücke in der Eltern-Kind-Beziehung, vor allem für Ildi, die Ältere der Schwestern, aus deren Perspektive das Buch verfasst ist. Der kleine, idyllische Hof von Mamika wird zu ihrem Sehnsuchtsort und Hort der Kindheit, wo sich nach Ildis Hoffnung seit dem letzten Besuch so wenig wie möglich geändert hat, die Hühner, der Gemüsegarten, alles noch am rechten Fleck sein muss, um einen letzten Rest Sicherheit um die eigene Herkunft zu bewahren.
Gleichzeitig zeugen diese Besuche immer mehr auch von einer gewissen Entfremdung. Gegenüber ihren in einfachen Verhältnissen lebenden Verwandten auf dem Land wirkt die zunehmend westlich geprägte Familie Kocsis abgehoben, fast mondän. Sie will nicht mehr so recht ins Bild passen, wenn sie mit ihrem klimatisierten Chevrolet und später Mercedes-Benz, wohltemperiert auf den unbefestigten und staubigen Landstraßen Zigeunersiedlungen aus Wellblechhütten passiert.
Denn in bescheidenem Rahmen haben die Eltern es zu etwas gebracht, sie haben sich hochgearbeitet, von kleinen Jobs hin zum eigenen Café und der Schweizer Staatsbürgerschaft. Der Preis dafür: harte Arbeit und noch mehr Angepasstheit, stets unter der Devise: Nur nicht auffallen, nicht aufmucken, in der Schweiz müssten sie sich ihr menschliches Schicksal noch erarbeiten, wie Mutter Rózsa nicht müde wird zu erklären. Doch trotz dieser Integrationsbeflissenheit bleiben die Kocsis stets die immigrierten Serben, die Ausländer, wo sie doch eigentlich Ungarn sind.
Dies zeigt sich überdeutlich in ihrem Geschäft, für dessen Überleben die inzwischen erwachsenen Mädchen täglich mitarbeiten müssen. Ildi ist das ganz recht, da sie in ihrem Studium nicht die Erfüllung findet und sonst auch nicht recht weiß, wohin mit sich. Hier lernen die Mädchen, in den gesellschaftlich besseren Kreisen zu navigieren, zwischen all den Wohlsituierten, die es sich leisten können, montags vormittags frühstücken zu gehen. Was man sagen darf und was nicht, wenn man sich permanent beweisen muss, bläut ihnen die Mutter ein, ihnen, die stets irgendwie unter Beobachtung wohlwollend-interessierter bis skeptischer Blicke stehen und neugierigen Fragen ausgesetzt sind, vermehrt noch, als der Krieg in Jugoslawien ausbricht. Und manchmal bröckelt sie, die wohlerzogene Fassade der Schweizer Bürger, und lässt tief blicken, in erschreckend abfällige, manchmal feindselige Abgründe. Nur nichts an sich heranlassen und vor allem nicht darauf reagieren, rät die Mutter, die sich zur Meisterin der Contenance und einem Muster an Diszipliniertheit trainiert hat.
Vater Miklós kompensiert die suboptimale Situation und seinen Hass auf die Kommunisten, später die stete Angst um die Angehörigen im Kriegsgebiet, die eigene Hilflosigkeit in der fernen Schweiz und das schlechte Gewissen, unter dem die ganze Familie leidet, mit Pálinka-Konsum. Zurück in die Heimat können sie nicht, richtig angekommen sind sie jedoch auch nie. Ildi erträgt das alles irgendwann nicht mehr und emanzipiert sich schließlich vom familiären Kosmos.
In teils unglaublich langen Sätzen fließt die Sprache des Romans dahin. Die ausschnitthaft erzählte Geschichte mit eingeschobenen Rückblicken in die Kindheit ist autobiographisch geprägt und könnte Nadj Abonjis eigene sein. Einfache, manchmal naive und doch sehr klare Beschreibungen und Beobachtungen eines kleinen Mädchens und die Melancholie einer jungen Frau, die nicht weiß, wo sie hingehört, machen das Buch sehr ergreifend. Zu Recht wurde es in diesem Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.