Integration ohne Debatte
Während ganz Deutschland gerade heftig über die Integration von Einwanderern streitet, kann Bürgermeister der bayerischen Gemeinde Markt Kastl, Stefan Braun, darüber nur müde lächeln: „Integration – das können wir“, kontert er stolz. Zu Recht, denn zwischen 1958 und 2006 gab die Gemeinde dem „Ungarischen Gymnasium Burg Kastl“ eine Heimstatt. Die Verdienste des Gymnasiums wurden im Juni dieses Jahres von offizieller Seite gewürdigt, als „Burg Kastl“ die Auszeichnung „A Magyar örökség része“ (Teil des Ungarischen Kulturerbes) zuteil wurde.
Aus ebendiesem Anlass luden am 22. Oktober ehemalige Schüler zu einer Festveranstaltung ins ungarische Parlament. Da, wo normalerweise ungarische Politiker hitzige Debatten austragen, trafen sich am vorvergangenen Freitag ungarische Weltenbürger dreier Generationen, verbunden durch ihre ungarischen Wurzeln und die Jugendjahre im ungarisch-bayerischen Gymnasium „Burg Kastl“.
Doch warum verschlägt es ungarische Gymnasiasten ausgerechnet in die bayerische Provinz? Die Antwort lässt sich in den Schlagworten „Krieg“, „Diktatur“ und „Aufstand“ finden. Die ersten ungarischen Flüchtlinge erreichten Bayern gegen Ende des zweiten Weltkrieges und fanden zunächst in einer provisorischen Schule in der Nähe von Passau Zuflucht. Nachdem die Ereignisse in Ungarn im Herbst 1956 eskaliert waren, strömten viele Menschen auf der Suche nach einer neuen Heimat nach Deutschland, so auch nach Markt Kastl: Auf Beschluss der bayerischen Landesregierung nahm die Gemeinde das ungarische Gymnasium in seiner Klosterburg auf, denn, wie es Georg Paul Hefty, Mitglied des Alumni-Vereins der ehemaligen Schüler und Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausdrückt, „der Mensch braucht eine Heimstatt um sich heimisch zu fühlen.“ 1958 zogen schließlich 200 Schüler in die Räume der Klosterburg ein. Im Laufe der Jahre wurde aus der Not eine Tugend, im zweisprachigen Unterricht paukten die Gymnasiasten nicht nur deutsche Grammatik, sondern pflegten gleichzeitig ungarisches Kulturgut. Und genau das scheint den „Kastler Geist“ auszumachen, der die ehemaligen Schüler – insgesamt rund 4.000 – auch heute noch miteinander verbindet, nämlich eine neue Heimat gefunden zu haben, in der man frei leben und eine neue Kultur kennen lernen konnte, ohne die Herkunft verleugnen zu müssen. Trotzdem blieb die Schule keine abgeschottete ungarische Insel, Freundschaften zu den Dorfbewohnern entstanden, und die Schule gehörte bald zur Identität der Gemeinde. Nicht umsonst prägt das Gymnasium auch heute noch das Selbstverständnis der Kastler: „Ungarn ist fest in unseren Herzen“, sagte Bürgermeister Braun pathetisch.
Der Festakt aus Anlass der Auszeichnung für das Gymnasium gab den Verdiensten der Schule einen gebührenden Rahmen. Ehemalige Kastler, vom ersten bis zum letzten Abiturjahrgang, hatten sich deshalb aus den verschiedensten Ecken der Welt auf den Weg nach Budapest gemacht. Besinnlich begann die Feier mit einem ökumenischen Gebet, gefolgt von Reden verschiedener ungarischer Regierungsvertreter und ehemaliger Schüler, die allesamt die kulturpolitische Leistung der Schule hervorhoben, aber auch ganz persönliche emotionale Erinnerungen enthielten.
Obwohl finanzielle Probleme im Jahr 2006 das Ende der Schule erzwangen, lebt der Leitgedanke des Gymnasiums weiter, der über nahezu fünfzig Jahre hinweg Kastl prägte und Deutschland derzeit zu fehlen scheint – nämlich Toleranz, Integration und den Austausch verschiedener Kulturen, eben das „nationale und europäische Freiheitsverständnis“, wie Hefty den Geist der Schule nennt.