Warum geht es hier wirklich?
Die Äußerung des Fidesz-Fraktionsvorsitzendem János Lázár, wonach sinngemäß die Verfassung geändert werde müsse, wenn sie der Finanzpolitik der Regierung im Wege stehe, ist bei aller Klarheit doch höchst rätselhaft und wirft viele Fragen auf.
Unklar ist zunächst erst einmal, warum sich Lázár überhaupt zu ihr hinreißen ließ. Warum musste er in aller Öffentlichkeit die Muskeln spielen lassen? Warum konnte der Fidesz den ihm vom Verfassungsgericht bereiteten Rückschlag nicht einfach kommentarlos einstecken und sich später ohne großen Medienrummel und kraft seiner verfassungsändernden Mehrheit an den gleichen Plan machen? Die beabsichtigte Verfassungsänderung hätte dann bequem auf die Agenda eines vollen Sitzungstages als x-ter von vielen Tagesordnungspunkten gesetzt werden können, um dann – mit großer Chance in seiner Dimension unerkannt zu bleiben – durchgewunken zu werden – wie schon so manch anderes nicht so leicht Verdauliches seit Amtsantritt der Regierung Orbán.
Dieses Vorgehen, also das Schweigen an der richtigen Stelle wäre um so mehr zu empfehlen gewesen, da besonders in heiklen Fragen, die viel Fingerspitzengefühl erfordern, Kommunikation noch immer nicht zu den Meisterdisziplinen der Fidesz-Oberen zu gehören scheint. Auch wenn die jetzige Verbalattacke auf das Verfassungsgericht das Land sicher nicht so teuer kommt wie die Griechenland-Vergleiche von diesem Sommer dürfte der verursachte politische Schaden dennoch nicht unerheblich sein. Nicht nur, dass Lázárs Äußerung gleich einmal alle drei Oppositionsparteien auf die Barrikaden getrieben hat, selbst in den eigenen Reihen sorgte sie nicht nur für ungeteilte Zustimmung.
Und wenn Lázárs Worte die Ohren westlicher Journalisten erreichen und diese dann zwecks Glaubhaftmachung des Unglaublichen bei ihren Recherchen ein paar Oppositionspolitiker zu Rate ziehen oder gleich mal wieder bei György Konrád oder Imre Kertész nachfragen, dann kann man sich die daraus resultierenden Artikel fast schon selber schreiben. „Fidesz sagt Demokratie den Kampf an“, oder „Orbán schafft den Rechtsstaat ab“ könnten sie betitelt sein. Die Überschrift „Marsch in den Führerstaat“ (Die Welt, Mitte Oktober) hatten wir ja bereits bei der vorherigen Welle an Negativartikeln über Ungarn.
Gut, solche Artikel werden die ungarische Regierung sicher nicht aus dem Sattel werfen, wenn überhaupt tangieren. Förderlich sind sie für Ungarn aber auch nicht. Erst recht nicht am Vorabend seiner EU-Ratspräsidentschaft. Immerhin kann man annehmen, dass es für Vertreter Ungarns reichlich lästig sein muss, bei jeder Begegnung mit EU-Vertretern erst einmal klären zu müssen, dass es sich mit der Demokratie in Ungarn doch nicht so verhalte wie in der Presse steht. Eben erst vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel – in welch unsachlicher Weise auch immer – als „Hauptstadt des Antisemitismus“ gebrandmarkt kann die ungarische Regierung unmöglich den Ehrgeiz haben, sich für ihr Land jetzt auch noch Titel wie „Kasachstan Europas“ oder „Russlands gelehriger Schüler“ holen zu wollen.
Aber selbst wenn es die unbedachte Trotzreaktion Lázárs nicht gegeben hätte, stellt sich die Frage, ob die Abfindungsbesteuerungs-Entscheidung der Regierung den ganzen Rummel überhaupt wert war. Hätte eine einfache Anhebung der Zwei-Millionen-Grenze um einige Millionen das ganze Problem mit den überhöhten Abfindungen nicht viel besser entschärft? Und hätte nicht bei den wirklich haarsträubend überzogenen Abfindungen erst einmal die Staatsanwaltschaft walten können? Immerhin gelang es ihr ja auch, der berühmt-berüchtigten 100-Millionen-Forint-Eleonóra von der BKV habhaft zu werden. Wozu gibt es denn den juristischen Terminus von der „Sittenwidrigkeit“?
Da all das aber offensichtlich nicht versucht worden ist, drängt sich der Verdacht auf, dass es im vorliegenden Fall nicht primär um die Rettung der – wenn auch etwas unorthodoxen – Lösung des Abfindungsproblems geht. Vielleicht hat die Regierung auch nur bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, dankbar zugegriffen, um den Handlungsradius des Verfassungsgerichtes auf bequeme Maße zurechtstutzen zu können. Nicht wegen des aktuellen Themas – so viel kann es der Regierung wahrhaftig nicht wert sein – sondern eher mit Blick auf zukünftige Klingenwechsel mit dem Verfassungsgericht. Immerhin gibt es in den beiden bisherigen Aktionspaketen noch etliche Punkte, die in Sachen Verfassungskonformität nicht unbedingt über jeden Zweifel erhaben sind. Man denke nur an die umstrittene Frage der temporären Requirierung der Einzahlungen in die privaten Rentenkassen.
Allein hier soll es auf Jahresbasis betrachtet um einen Gesamtbetrag von rund 360 Mrd. Ft gehen. Keine Kleinigkeit für das mit spitzem Bleistift kalkulierte Budget 2011. Wäre doch dumm, wenn es per verfassungsrichterlichem Entscheid in der Rentenkassenfrage zu Fall gebracht würde! Und damit gleich auch noch die angeschobene Steuerreform, eines der positiven Aushängeschilder der neuen Wirtchaftspolitik. Ein solcher politischer Super-GAU könnte einen Präventivschlag gegen mögliche „Risikofaktoren“ durchaus sinnvoll erscheinen lassen. Nicht, dass bei dem Beschluss über die Besteuerung von Abfindungen bewusst geschludert worden ist, um eine entsprechende Reaktion der Verfassungsrichter zu provozieren! Auf jeden Fall könnte sie aber bei Lichte betrachtet wunderbar ins Konzept der Regierung passen.