Premier Orbán: „Hier kann man nicht mehr leben”
Bei einem der größten Chemie-Unfälle in der Geschichte Ungarns sind vier Menschen ums Leben gekommen, mehr als hundert wurden verletzt. Aus dem Schlackebehälter einer Tonerdefabrik waren am vergangenen Montag mehrere hunderttausend Kubikmeter Schlacke ausgelaufen und hatten die Gemeinden Kolontár, Devecser und Somlóvásárhely überschwemmt. Das Innenministerium rief in den Komitaten Győr-Moson-Sopron, Vas und Veszprém den Notstand aus.
„Es war grauenhaft. Die Leute, die unmittelbar in der Nähe waren, haben von acht Meter hohen Wellen gesprochen. Hier sieht es jetzt aus wie auf dem Mars. Die Flut hat Autos, Menschen, Kühe, Brücken, einfach alles mitgerissen.” Mit diesen dramatischen Worten beschrieb einer der Einwohner der Ortschaft Kolontár die verheerende Giftschlammkatastrophe.
Aus bisher ungeklärten Gründen hatte ein Ablagerbecken für den Giftschlamm einer Tonerdefabrik der Magyar Alumínium Zrt. ein Leck bekommen, worauf eine stark laugige Schlammlawine losbrach und sich in einen nahe gelegenen Bach ergoss, der wegen der starken Regenfälle in den Tagen zuvor ohnehin schon kurz davor gewesen war, über die Ufer zu treten. Rund eine Million Kubikmeter Schlamm vermengten sich mit dem Hochwasser und schwappten sintflutartig über die nächstgelegene Gemeinde Kolontár. Neben Kolontár wurden auch die Ortschaften Devecser und Somlóvásárhely überflutet. Insgesamt ist ein Gebiet von rund 40 Quadratkilometern von der Katastrophe betroffen.
Die Schlammlawine forderte bislang vier Menschenleben. Unter den Opfern ist auch ein Geschwisterpaar, ein dreijähriger Junge und ein einjähriges Mädchen. Die Medien berichteten darüber, dass die Eltern der Kinder vor einigen Jahren bereits ein drittes Kind verloren hätten, das von einem Zug überfahren worden sei. Neben dem Geschwisterpaar kamen bei der Schlammflut auch ein 35-jähriger Mann und eine Rentnerin ums Leben. Während der 35-Jährige ertrank, als die Schlammlawine seinen Jeep umwarf, wurde die Seniorin in ihrem eigenen Haus vom Schlamm begraben.
Die Schlammflut forderte aber nicht nur vier Menschenleben, es gab auch zahlreiche Verletzte. Die Zahl der Verletzten lag am Montagabend bei 113 Personen. Sechs Menschen wurden schwer verletzt, zwei Personen schwebten sogar in Lebensgefahr.
Der Giftschlamm sieht durch seine tiefrote Farbe, die alles, was dem Schlamm in den Weg kommt, einfärbt, besonders erschreckend aus. Doch dies ist mit das Harmloseste an dem Schlamm, es handelt sich lediglich um Eisenoxid, im Volksmund auch als Rost bekannt. Viel schlimmer ist, dass der Schlamm, der bei der Umwandlung von Bauxit in Tonerde, dem Ausgangsstoff zur Herstellung von Aluminium, entsteht, mit einer starken Natronlauge behandelt wird. Diese Lauge wirkt ätzender als starke Säuren.
Im Zuge der Flutwelle gelangte der laugige Schlamm in den Bach Torna und von dort in den Fluss Marcal, einem Nebenfluss der Raab, die wiederum in die Donau mündet. Der Marcal war am vergangenen Dienstag bereits biologisch tot.
Umweltstaatssekretär Zoltán Illés warnte vor einer totalen ökologischen Katastrophe, falls der Giftschlamm nicht gebunden werden könne. Mit Helikoptern wurde daher versucht, durch den Abwurf von mehreren Tonnen Gips den giftigen Schlamm zu binden.
Laut Illés wurde im Katastrophengebiet um Kolontár die Fauna und Flora durch die starke Lauge im Schlamm völlig zerstört. Der Umweltstaatssekretär betonte, dass die größte Aufgabe der nächsten Wochen die Entfernung des giftigen Schlammes sei. Sollte dies nicht gelingen, droht weiteres Ungemach: In trockenem Zustand besteht der Schlamm aus feinen Staubteilchen, die beim Einatmen Gesundheitsschäden in der Lunge verursachen können. Am Donnerstag gab die Ungarische Akademie der Wissenschaften immerhin Entwarnung: Entgegen früherer Meldungen liege die radioaktive Strahlung des Schlammes weit unter den gesetzlichen Grenzwerten, der Bleigehalt sei niedriger als bei gewöhnlichem Erdboden.
Die kurz- und langfristigen Schäden sind jedoch auch so verheerend. Viele Menschen haben durch die tiefrote Flutwelle ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Landwirte wurden ihrer Existenzgrundlage beraubt: In der Flut kamen zahlreiche Nutztiere ums Leben, nach Informationen des Landwirtschaftsministeriums sind rund 800 Hektar Ackerfläche auf lange Sicht unbrauchbar geworden. Nach Ansicht der Akademie der Wissenschaften hilft hier auch ein kompletter Austausch des Bodens nicht.
Bei einer Begehung des Katastrophengebietes sagte Ministerpräsident Viktor Orbán, dass man die betroffenen Familien einzeln befragen müsse, ob sie wieder in ihr Haus einziehen möchten. Wer ablehnt, müsse ein neues Haus in einem nicht betroffenen Teil desselben Ortes erhalten, wer nicht einmal in der Gemeinde bleiben möchte, solle woanders eine Wohnung bekommen. „Hier kann man nicht mehr leben”, so Orbán wörtlich, der davon sprach, dass „mehr als wahrscheinlich” menschliches Versagen hinter dem Unfall stehe.
Umweltstaatssekretär Zoltán Illés betonte, dass die gesamten Kosten für die verursachten Schäden der Fabrikbetreiber Magyar Alumínium Zrt. bezahlen müsse. Illés bezifferte die Kosten auf mehr als zehn Milliarden Forint. Die Polizei ermittelt bereits gegen das Unternehmen, das seine Unschuld beteuert und konsequent von einer „Naturkatastrophe” spricht. Außerdem wies Illés auf die seltsame Tatsache hin, dass der rote Schlamm, der bislang als spezielles Gefahrengut galt, 2004, also unter einer sozialistischen Regierung, durch Umwidmung diesen Sonderstatus verlor. Angeblich soll diese Umwidmung im Einklang mit geltenden EU-Richtlinien erfolgt sein.
Der LMP-Abgeordnete und Vorsitzende des parlamentarischen Umweltausschusses Benedek Jávor, der sich selbst vor Ort ein Bild von der Katastrophe gemacht hatte, wandte sich kurz nach seiner Visite in einem offenen Brief an Entwicklungsminister Tamás Fellegi. Darin forderte er die Offenlegung der Privatisierungsverträge der betroffenen, aber auch aller weiteren Aluminiumfirmen. Außerdem verlangte der Politiker eine ausführliche Informierung über die damalige und gegenwärtige Eigentümerstruktur der Magyar Alumínium Zrt. Währenddessen wird – vor allem in eher rechten Medien – über gewisse Verbindungen der betroffenen Firma zum ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány und seinem Firmenimperium spekuliert.