Wie man Dinge mit Wörtern macht
Selbst Anfang August wird der Besucher von Nieselregen empfangen – das Ruhrgebiet, neben Pécs und Istanbul die dritte Kulturhauptstadt Europas 2010, kann seine Gäste nicht mit dem Wetter locken. Stattdessen bedienen sich die Verantwortlichen der RUHR.2010 GmbH und die 53 beteiligten Städte und Gemeinden allerlei Tricks.
„Die Kulturhauptstadt Europas 2010 […] präsentiert sich als Gastgeber für alle, die den vielschichtigen Wandel von Europas legendärer Kohle- und Stahlregion zu einer polyzentrischen Kulturmetropole neuen Typs erleben wollen“, heißt es im „Mission Statement“ der Kulturhauptstadt. Was eine „polyzentrische Kulturmetropole“ ist, erfährt der unbedarfte Gast spätestens nach einem Orientierungsbesuch im Besucherzentrum in der ehemaligen Dortmunder Union-Brauerei. Nach Durchsicht der dort erhaltenen, schätzungsweise drei Kilogramm Prospekte hat man zwar noch keine Ahnung, was abends wo läuft. Aber immerhin einen Eindruck davon, wie das ist, wenn 53 Stadtverwaltungen mit 53 Bürgermeistern, 53 Stadträten und 53 Kulturamtsleitern, die sich allesamt profilieren wollen und relativ unverhohlen miteinander in Konkurrenz stehen, so tun müssen, als würden sie zusammenarbeiten. Enervierend ist auch der ideologische Überbau von RUHR.2010. Es scheint, als habe ein Heer von Stadtsoziologen und Kulturwissenschaftlern die Aufgabe bekommen, die eigentlich charmante Low-key-Destination Ruhrgebiet für das Kulturhauptstadtjahr mithilfe von Wortungetümen neu zu erfinden. Entstanden ist dabei ein aus wissenschaftlich anmutenden Schachtelsätzen, Wortneuschöpfungen, scheinbar ins Deutsche übersetzten Anglizismen und hoffnungslosen Übertreibungen („scheinbar grenzenloses polyzentrisches Stadtgebilde“) bestehender Neusprech, der den Groove der Kulturhauptstadt maßgeblich prägt.
Doch weg von der Theorie, hin zur Praxis. Nach einer längeren Entscheidungsfindungsphase fällt die Wahl auf eine Radtour entlang der Emscher mit Besichtigung des Projektes „Emscherkunst“, dem angeblich „größten Kunstprojekt der Kulturhauptstadt“. Entlang des ehemals als Abwasserkanal genutzten Flusses haben Künstler aus der ganzen Welt monumentale Werke geschaffen, die sich an ihrem jeweiligen Standort in die Landschaft einfügen oder sie konterkarieren. Besonders eindrucksvoll gelingt dies der dänischen Künstlergruppe N 55, deren „Walking House“, ein selbst entwickeltes mobiles Heim, sich während der gesamten Projektdauer über mehrere Wochen in der Emscherregion fortbewegt. Zwar wohnen nicht die Künstler selbst in dem wenige Quadratmeter kleinen Häuschen, sondern eigens angemietete amerikanische Studenten, aber das Projekt setzt sich gerade deswegen auf sehr authentische Weise mit Fragen der Arbeitsmigration und der Ökologie auseinander. Spannend auch das Projekt „Warten auf den Fluss“ von Observatorium. Die Holländer haben eine bewohnbare Brücke auf eine Wiese gestellt, die ab 2020 als neues Flussbett der umgeleiteten Emscher dienen wird. Schade, dass das Projekt extrem kommerzialisiert ist: In der jugendherbergsartigen Unterkunft im Innern der Brücke können Kunstfreaks eine Übernachtung buchen – Kostenpunkt 90 Euro. Leider gelingt es aufgrund der katastrophalen Beschilderung nicht, alle Kunstwerke zu sehen. Nach mehreren Stunden Radfahren und der glücklichen Auffindung von „Satisfy me“ von Monica Bonvicini erbarmt sich eine ebenfalls auf Emscherkunst-Tour befindliche Einheimische und schenkt eine ihrer Emscherkunst-Fahrradkarten her, die im Besucherzentrum nicht erhältlich sind.
Unterwegs ist der Betrachter auch beim Projekt „RuhrAtoll“ auf dem Essener Baldeneysee. Hier haben Künstler begehbare Inseln geschaffen, die die Besucher mit einem Tretboot anfahren können. So wird die Kunst zum Freizeitspaß für die ganze Familie, und insbesondere Ilya und Emilia Kabakovs augenzwinkernder Blick auf die Wissenschaftsversessenheit und die im Ruhrgebiet zu einer Art Religion erhobene Industriekultur tut nach einer Woche Ruhrgebiet sehr gut. Da ist es auch zu verschmerzen, wenn man erst am Seeufer erfährt, dass von den in der Begleitbroschüre vorgestellten sechs Inseln nur vier verwirklicht worden sind, angeblich aus Geldmangel. Vermutlich sind Hauptsponsor und Initiator RWE, einem der größten Konzerne der Region, die Mittel ausgegangen.
Insgesamt aber ist das Ruhrgebiet – nicht nur im Kulturhauptstadtjahr – eine Reise wert. Monumente der Industriekultur, ohne die man die europäische Wirtschafts- und Kulturgeschichte nicht verstehen kann, hervorragende Kunstmuseen und die wenig propagierte, aber unbedingt sehenswerte Weltsensation Essener Domschatz lassen darauf hoffen, dass die Popularität des Kulturhauptstadtjahres nach dem Willen der Macher lange anhält.