„Spielzeit des Überlebens“
Ungarns unabhängige Theaterszene hat die Folgen der staatlichen Haushaltskrise hart getroffen, einige Institutionen sind existentiell gefährdet. Im Zuge von finanziellen Engpässen zahlt das Kulturministerium vorerst nur 66 Prozent des jährlichen Fördergeldes. Gleichzeitig verzögert sich dessen Auszahlung um Monate: Grund ist die Praxis des staatlichen Vergabeverfahrens. Diese wird von den Theatern schon seit Jahren kritisiert, aber die derzeitige Situation ist für die Institutionen unbekannt folgenreich: Vielerorts wird schon seit Monaten ohne Lohn oder auf Kredit gearbeitet.
Derzeit ist Sommerpause in den Theatern, ob und wie es ab September weitergehen wird, bleibt für die unabhängigen Theater und auch Kulturzentren unklar. Sie gehören alle der Kategorie sechs an, den Non-Profit- und Zivilorganisationen. Gefördert wird dieser Sektor mit etwa zehn Prozent des allgemeinen Theateretats, aktuell mit 1,215 Milliarden Forint. Als Reaktion auf den finanziellen Engpass werden den Einrichtungen vorerst aber nur 66 Prozent des Betrags, 802 Millionen Forint zukommen.
Tanzen auf Kredit
Wie das Ministerium mitteilte bleibt der Rest im Rahmen der allgemeinen Haushaltskonsolidierung bis Jahresende einbehalten. Die Situation der Theater spitzt sich dadurch zu, dass das jährliche Vergabeverfahren mit mehreren Monaten Verspätung begann, daher floss bisher für 2010 noch kein Geld. Es ist ein Verfahren, in dem sich alle 108 zugehörigen Gruppen jährlich neu bewerben müssen. 2009 erhielten die Theater und Kulturhäuser ihre Förderung im Juni, für den schon seit Januar laufenden Haushalt. Dieses Jahr wird es noch später: In der vergangenen Woche versprach das Ministerium nun den vorerst gekürzten Betrag im September auszahlen zu wollen. Schriftliche Verbindlichkeiten gibt es dafür bisher nicht, auch auf Anfrage konnte kein genauer Termin mitgeteilt werden. Es bleibt daher ein Schwebezustand. Besonders betroffen ist die Sparte für zeitgenössischen Tanz, denn etwa 90 Prozent jener Ensemble gehören zur sechsten Kategorie. „Wir waren darauf überhaupt nicht vorbereitet“, sagt György Ujvári-Pintér, Direktor der Compagnie Pál Frenák. Seit März arbeitet die Compagnie auf Kredit. Er hofft so die „Integrität des Theaters erhalten zu können, den Künstlern Sicherheit zu geben.“ Die Arbeit auf der Bühne soll unberührt bleiben, das Geld reicht bis Januar. Bleibt das zurückbehaltene Drittel der Fördergelder aus, kann er die gegenwärtigen Strukturen nicht erhalten. Genau in dieser Lage ist schon die Compagnie von Yvette Bozsik. Im August wird kein Lohn gezahlt, zwei internationale Tänzer musste das Ensemble entlassen, der restliche Teil probt weiter, derzeit auf sich selbst gestellt, ohne Trainer. Das ist ein schwerer Einschnitt für die erfolgreiche Compagnie. Bozsik sagt: „Ich hoffe, dass das Ministerium unser Partner ist.“ Auf Anfrage teilte das Ministerium mit, „die unabhängigen Theater langfristig unterstützen zu wollen.“
Unsicherheit und Repertoire
Aktuell wird es aber „keine normale Saison mehr werden“, sagt Bozsik. Der Direktor des Merlins László Magács fasst es ähnlich: „Diese Spielzeit wird die Spielzeit des Überlebens.“ Magács ist gleichzeitig Sprecher der „Befogadó Színházak Társulása“ (BESZT), einer Gruppe, in der sich unterstützte Theater organisieren. Spricht er über die eigenen Realitäten, skizziert er auch die des ganzen Sektors: Längere Sommerpause, dann Repertoire statt Premieren und insgesamt Projektarbeit statt Profil-Schöpfung. Mit den ersten zwei Dritteln des Geldes – der konkrete Betrag von 31,8 Millionen Forint wurde ihm vergangenen Montag vom Ministerium in Aussicht gestellt – ist für ihn nicht mehr gedeckt als die Unterhaltskosten; für technische Ausrüstung oder Produktionskosten bleibt vorerst nichts übrig.
In einer ähnlichen Situation wie die Theater ist auch das Kultur- und Veranstaltungszentrum T?zraktér. Direktorin Ágnes Simor versucht die Infrastruktur für die 370 im und um den T?zraktér aktiven Künstler zu erhalten, sie selbst bekommt seit März keinen Lohn mehr. Was Bar und Café einnehmen, reicht bei Weitem nicht aus. Auch die Compagnie Pál Frenák hat ihr Studio im T?zraktér, daneben Gruppen wie das Radikális- oder das TÁP-Theater. Es ist ein wichtiger und wohl der größte Treffpunkt für unabhängige und alternative Künstler in Budapest. „Wir bieten eine unvergleichbare Möglichkeit für Austausch“, sagt Simor. Im Moment bedeutet das aber vor allem, dass geballt Geld ausbleibt. Private Unterstützer haben Geld geliehen, ansonsten ist es die gleiche Lage wie in der gesamten sechsten Kategorie: Absolute Unsicherheit.
Vernetzung und Planung
Es scheint sehr unklar, wie sich die konservative Regierung endgültig gegenüber dem sehr progressiven Sektor positionieren wird. Die verschiedenen Institutionen versuchen sich unterdessen besser zu vernetzen. Es gibt Treffen, um über die unsichere Lage zu sondieren und um bestenfalls dem Ministerium ein alternatives Verfahren für die Mittelvergabe vorzuschlagen. Daran ist auch die Regierung perspektivisch interessiert. Sie will die Förderung „professionell umgestalten“, eine „wertbasierte Evaluation“ ist das Ziel, erklärte Dénes Albert, Pressesprecher für Kulturangelegenheiten im Ministerium für Nationale Ressources, auf Anfrage der Budapester Zeitung.
Fakt ist, dass auch jenseits der aktuellen Lage das generelle Procedere für die Institutionen kompliziert und umständlich ist: Langfristige Planung ist mit den kurzfristig, erst im laufenden Haushalt, ausgezahlten Geldern schwierig. Tänzer und Choreograph Krisztián Gergye sagt: „Es ist unausweichlich zu reagieren.“ Dazu sind die Treffen wichtig, gleichzeitig „bleiben wir aber Amateur-Politiker, die nun gedrängt sind politisch zu kommunizieren.“ Um sich aber auch als Künstler zu positionieren, schreibt er sein aktuelles Stück "Adaption" um. Ursprünglich war es schon als sehr solistisches und persönliches Stück angedacht, das Identitätsbildung im Kontext verschiedener Ideologien thematisiert. Es wird eine der wenigen Premieren der kommenden Saison sein, wenn auch zunächst in den November verschoben.