„Das Schlimmste verhindert!“
Drei Tore für Deutschland und keins für Ungarn. Ein verletzter deutscher WM-Kandidat, aber kein verletzter Zuschauer. Ein zufriedener Polizeichef, aber mehrere Tausend verärgerte Fußballfans. Chaos beim Ticketverkauf und strenge Ordnung und Disziplin bei der Stadionsicherung.
Die Bilanz des Freundschaftsspiels Ungarn-Deutschland am vorletzten Sonnabend im Ferenc-Puskás-Stadion ist durchwachsen. Genauso uneinheitlich fallen auch die Schuldzuweisungen aus. Von Zuschauerseite richtet sich die Empörung darüber, dass deutsche Zuschauer unabhängig von ihren Platzkarten von den Ordnungshütern in den deutschen Sektor gedrängt wurden, ganz klar an die Adresse der Ordnungskräfte. Die Polizei wiederum wirft den Veranstaltern schweres Versagen vor. Nach Meinung von Polizei-Oberstleutnant Gábor Mittó, der für die Spielabsicherung die oberste Verantwortung trug, sei in erster Linie der vom Ungarischen Fußballverband (MLSZ) und IBUSZ – seinem exklusiven Ticketverkäufer vor Ort – gesetz- und absprachewidrig erfolgte Ticketverkauf Schuld an der entstandenen Lage. „Der Ungarische Fußballverband befindet sich leider auf dem gleichen Niveau wie unser Fußball“, macht Mittó aus seinem Ärger über die fahrlässig herbeigerufene gefährliche Ausgangssituation kurz vor Spielbeginn kein Hehl. Und schließlich gab es sowohl von Seiten der Veranstalter als auch der Polizei vorsichtige Vorwürfe an die Adresse des Deutschen Fußballverbands (DFB), weil dieser sich bis zuletzt – ob nun aus Vorsicht oder geschäftlichen Erwägungen – vehement gegen einen ungarischen Verkauf von Tickets an deutsche Fans vor Ort gesperrt hatte.
Gesetzlich ist die Lage für Mittó klar: „Der Paragraf 68 des ungarischen Sportgesetzes schreibt vor, dass der Ticketverkauf von den Veranstaltern so geregelt sein muss, dass eine Abgrenzung der Fan-Lager lösbar ist. Von den Veranstaltern wurde dieses Gesetz aus geschäftlichem Kalkül bewusst verletzt.“ Sándor Gaál, Direktor des Sportbüros von IBUSZ, sieht das anders: „Ich habe doch kein Recht, meine Kunden, bevor ich ihnen ein Ticket verkaufe, erst um einen Blick in ihren Ausweis zu bitten. Und selbst wenn: Wie soll ich verhindern, dass sich Deutsche ihre Tickets von Bürgern ungarischer Nationalität kaufen lassen? Beim immer wichtigeren Verkauf übers Internet entfällt ohnehin jegliche Kontrollmöglichkeit.“
Jeder Verband trägt Verantwortung für seine Fans
Hintergrund für Gaáls theoretisches Dilemma ist nicht zuletzt eine internationale Übereinkunft, wonach bei Auswärtsspielen der Ticketverkauf an Fans der angereisten Mannschaft nicht im Gastland, sondern im Herkunftsland erfolgen soll. Der Verkauf obliegt dabei dem entsendenden Fußballverein. Im vorliegenden Fall war dafür der DFB verantwortlich, der sich eigens zu diesem Zweck ein Kontingent von 2.000 Tickets gesichert hatte. Mit der Übereinkunft soll vor allem sichergestellt werden, dass die Gäste möglichst nur im speziellen Gästesektor unterkommen. Außerdem soll so ermöglicht werden, dass die Vereine den Ticketverkauf an ihnen einschlägig bekannte Fans mit Gewaltpotenzial nach eigenem Ermessen von vorn herein unterbinden können. In Konsequenz dieser Freiheit tragen sie später aber auch die Verantwortung dafür, dass von „ihren“ Fans keine Gewalttätigkeiten ausgehen. Da die Vereine freilich nicht für solche Fans bürgen wollen, auf deren Stadionzutritt sie keinen Einfluss haben, liegt es auf der Hand, dass sie den Ticketverkauf nicht gerne aus der Hand geben. Nebenbei dürften sie aber auch aus geschäftlichen Erwägungen an der Wahrung der so entstandenen Exklusivität Interesse haben.
Dieses Kalkül ging im Fall von Ungarn jedoch nicht auf: Der DFB konnte von den erbetenen 2.000 Tickets nur ganze 750 verkaufen und gab den Rest einige Tage vor dem Match an die ungarischen Veranstalter zurück. Dabei hatten die DFB-Planer das Interesse von deutscher Seite keinesfalls überschätzt. Im Gegenteil: Letztlich saßen im deutschen Sektor etwa 3.000 deutsche Fans – die meisten aber ohne DFB-Tickets. Allem Anschein nach hatte der DFB die Rechnung ohne die starke hiesige deutsche Expat-Community gemacht, von der sich viele natürlich nicht die Chance entgehen lassen wollten, die Männer von Jogi Löw vor ihrem Einsatz in Südafrika noch einmal live zu erleben.
Die Rechnung ohne deutsche Expats gemacht
Klar hätten sie sich auch über das Internet und den DFB Tickets kaufen können. Aber warum so umständlich, wenn man zum Ticketkauf einfach nur ins nächste IBUSZ-Büro oder an die Stadionkassen gehen brauchte? Interessierte Deutsche mussten nicht einmal ihre Nationalität verbergen oder sich gar ungarischer Strohmänner bedienen. Ganz ohne Probleme konnten sie unter den gerade vorhandenen Tickets auswählen. Nicht einmal eine Beschränkung auf gewisse Sektoren gab es. „Von einem deutschen Sektor wurde mir nichts gesagt. Ebenso wenig wurde mir von Sektoren mit einem gewissen Risikopotenzial für deutsche Fans abgeraten“, erinnert sich ein in Ungarn tätiger deutscher Manager an seinen Ticketkauf.
Wenn es die Absicht der Ordnungskräfte war, deutsche Fans in einem Sektor zu konzentrieren, dann war diese durch den freien Ticketverkauf also bereits Wochen im Voraus vereitelt worden. „Wir waren uns am Spieltag vollends darüber im Klaren, dass es keine optimale Lösung geben wird. Uns blieb nur noch die Flucht nach vorn“, erinnert sich Mittó. So wurde zunächst versucht, den weiteren Verkauf von Tickets an deutsche Fans zu unterbinden. Obwohl der Ticketverkauf an Deutsche am Spieltag zum ersten Mal ausdrücklich untersagt war, mussten Mittó und seine Kollegen jedoch miterleben, wie sich immer mehr Deutsche mit frischen Tickets versorgten. „Nachdem alle Aufforderungen an den MLSZ, den Verkauf an Deutsche einzustellen, nicht fruchteten, sahen wir uns gegen 18.45 Uhr gezwungen, die Kassen komplett – also auch für ungarische Fans – zu schließen“, erinnert sich Mittó. „Mit dieser Maßnahme hat uns die Polizei einen Schaden von mehreren Millionen Forint zugefügt“, ärgert sich MLSZ-Sprecher László Pajor-Gyulai. Für Mittó war die Kassensperrung hingegen „der letzte verzweifelte Versuch das Schlimmste zu verhindern.“
Lieber Beschwerden als Krawalle
Parallel dazu begannen die Ordnungshüter jetzt damit, alle als Deutsche erkennbare Fans – egal wohin ihre Tickets lauteten – nach bis zu dreimaliger Leibesvisitation in den deutschen Sektor zu bugsieren. „Wir hatten Tickets für 9.000 Forint gekauft und bekamen plötzlich deutlich minderwertigere Plätze zugewiesen“, empört sich der bereits erwähnte deutsche Geschäftsmann über diese Maßnahme. Angesprochen auf derartige Ungerechtigkeiten gibt sich Mittó verständnisvoll und empfiehlt, sich bezüglich möglicher Schadenersatzforderungen doch einfach an den MLSZ zu wenden. „Schließlich war der MLSZ für den Ticketverkauf verantwortlich.“ Als Rechtfertigung für seine kompromisslose Entscheidung verweist Mittó auf seine Notsituation: „Wir wollten nicht riskieren, dass Deutsche zwischen Ungarn Platz nehmen und es dann möglicherweise zu gewaltsamen Handlungen gegen sie kommt. Lieber höre ich mir jetzt Beschwerden hinsichtlich etwaiger Wertverluste an als mir vorwerfen zu lassen, nicht alles in meiner Macht stehende für die körperliche Unversehrtheit der mir Schutzbefohlenen getan zu haben“, ist Mittó nach wie vor von der Richtigkeit seiner Entscheidung überzeugt.
Hinsichtlich des Ticketverkaufs macht sich Mittó übrigens seine eigenen Gedanken: „Es war ein taktischer Fehler, die DFB-Tickets nur über Deutschland zu verkaufen. Man hätte von dem DFB-Kontingent in Budapest Tickets für den Verkauf an hier ansässige deutsche Fans lassen sollen.“ IBUSZ-Manager Gaál äußert übrigens denselben Vorschlag. „Für das nächste derartige Match werde ich vom MLSZ auf jeden Fall verlangen, den Ticketverkauf an vor Ort lebende Deutsche unbedingt zu lösen“, verspricht Mittó. Der speziell separierbare Gästesektor hat übrigens eine Kapazität von 4.400 Plätzen. „Über das DFB-Kontingent hinaus hätten also locker bis zu 2.400 Tickets an Deutsche vor Ort verkauft werden können“, kalkuliert Mittó. Als Ort für einen Ticketverkauf „mit offenen Augen“ hält der Oberstleutnant übrigens beispielsweise die Deutsche Botschaft Budapest für geeignet.
„Erhöhtes“ Sicherheitsrisiko
Die hohe Polizeipräsenz in und um das Stadion – etwa 1.000 Polizisten waren im Einsatz – erklärt Mittó damit, dass das Sicherheitsrisiko des Spiels als „erhöht“ eingestuft worden war. In diesem Fall übernehme die Polizei zwar bereitwillig die Absicherung, allerdings müssen die Veranstalter ihnen dafür auch die volle Handlungsfreiheit übertragen. Für die höchste Risikoklassifizierung des Spiels war sowohl die Vergangenheit verantwortlich – bei den beiden letzten deutsch-ungarischen Länderspielen 1999 und 2001 war es zu Ausschreitungen gekommen – als auch aktuelle Hinweise, wonach sich diesmal erneut deutsche und ungarische Hooligans auf eine blutige „dritte Halbzeit“ vorbereiten würden.
„Bei einer ersten Abstimmung mit meinen deutschen Kollegen am 9. April war von 900 gewaltbereiten deutschen Fußballfans die Rede“, erinnert sich Mittó. Kurz vor dem Match wurde er informiert, dass sich immerhin noch 300 deutsche Hooligans auf den Weg nach Ungarn machen würden. Da diese vom DFB natürlich keine Tickets bekommen hatten, stand zu befürchten, dass sie bald an ungarischen Ticketkassen auftauchen würden. Zu allem Überfluss bestand das Bedrohungspotenzial am Spieltag aber nicht nur aus gewaltbereiten Fans, sondern auch aus höheren Gewalten. „Für den gesamten Sonnabend lag eine orangene, also sehr hohe Sturmwarnung vor. Wir haben riesiges Glück gehabt, dass diesbezüglich nichts passiert ist“, so Mittó mit unüberhörbarer Erleichterung in der Stimme.
Ermahnendes Omen
Und schließlich drittens, schwebte über der risikobeladenen Veranstaltung ein – wenngleich nicht reales – aber doch belastendes oder besser ermahnendes Omen: „Das Freundschaftsspiel fand zufällig auf den Tag genau am 25. Jahrestag der Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion statt“, so Mittó. Am 29. Mai 1985 waren dabei 39 Menschen getötet und 454 verletzt worden. Zur Katastrophe kam es damals hauptsächlich wegen der ungenügenden Separierung der beiden Fan-Lager. Zu den Konsequenzen der Katastrophe und den seither daraufhin verschärften Sicherheitsbestimmungen ist übrigens auf Wikipedia unter anderem folgendes zu lesen: „In Folge dieser Maßnahmen verlagerten sich die Auseinandersetzungen zwischen den Hooligans teilweise in die Innenstädte oder in osteuropäische Stadien, in denen die Sicherheitsvorkehrungen noch nicht in gleicher Weise umgesetzt wurden.“ Zumindest mit Blick auf Budapest müsste dieser Eindruck durch den konsequenten Einsatz von Männern wie Mittó und seinen Kollegen korrigiert werden.
„Ich freue mich, dass wir jetzt über unsere Sicherheitsmaßnahmen sprechen können, und nicht darüber wie viele Verletzte es gegeben hat“, so Mittó mit unverkennbarem Berufsstolz. „Es gab nur einige unwesentliche Vorkommnisse. Nicht zuletzt, da sich praktisch beide Lager dank unseres Einsatzes weder innerhalb noch außerhalb des Stadions berühren konnten. Ich werte unseren Einsatz als großen Erfolg.“