Sehr geehrter Herr Győri,
vielen Dank für Ihr Schreiben. Es tut mir leid, dass ich bei Ihnen für einen Schock gesorgt habe, und trage an dieser Stelle gerne zur Aufklärung bei.
Es verhält sich tatsächlich so, dass ich Mitglied der Partei Lehet Más a Politika (LMP) bin und bei der nahenden Parlamentswahl – übrigens ohne realistische Wahlchance – auf Listenplatz 12 der Budapester Komitatsliste kandidiere. Ich freue mich darüber, dass die Gremien der Partei mir mit der Nominierung ihr Vertrauen ausgesprochen haben. Den Zusammenhang mit meiner beruflichen Tätigkeit bei der Budapester Zeitung sehe ich indes weniger dramatisch als Sie. Als aufmerksamer Leser der BZ wissen Sie sicherlich, dass ich mich bereits mehrfach kritisch über LMP geäußert habe, was durchaus meiner Geisteshaltung entspricht. Die Tatsache, dass ich mit den Grundwerten der Partei einverstanden bin und in meiner Freizeit gerne mithelfe, heißt noch lange nicht, dass ich kritiklos alles gutheiße, was LMP im politischen Alltag tut, im Gegenteil. Der von Ihnen inkriminierte Artikel in der Ausgabe von vergangener Woche hat allerdings eine besondere Entstehungsgeschichte, die ich kurz erläutern möchte. Im Grunde stammt der Artikel von meinem Kollegen Peter Bognar, der von sich aus das Thema angeboten hatte. Ich selbst schreibe gerade in Wahlkampfzeiten nicht über die Partei, deren Mitglied ich bin, und bin im redaktionellen Alltag eher darum besorgt, dass über eine Partei wie LMP, die in Umfragen derzeit bei etwa 5 Prozent steht, ihrer relativ geringen Bedeutung entsprechend berichtet wird. Wie es bei einer Wochenzeitung leider manchmal vorkommt, war der Artikel von Peter Bognar bei Redaktionsschluss am vorvergangenen Freitag nicht mehr ganz aktuell. In einer Ad-hoc-Redaktionskonferenz haben wir uns entschieden, dem Artikel einige, aus unserer Sicht für die aktuelle Unterrichtung unserer Leser unerlässliche Informationen hinzuzufügen. Da ich nicht nur als Autor, sondern auch als Endredakteur des Politikteils tätig bin, übernahm ich diese Aufgabe. Dass ich anschließend meinen Namen neben denjenigen von Peter Bognar setzte, mögen Sie als eine Ungehörigkeit empfinden, ich hatte eigentlich beabsichtigt, unseren Lesern – von denen sehr viele um mein politisches Engagement wissen – gegenüber offen zu sein. Ihrer Ansicht, wonach der Artikel „leicht schwärmerisch und propagandistisch“ sein soll, kann ich nicht folgen. Insbesondere trifft es nicht auf die von Ihnen zitierten Textstellen zu: Dass LMP bei einer „wachsenden Zahl von Wählern“ auf offenen Ohren stößt, ist keine Erfindung von Peter Bognar oder mir, sondern eine von mehreren Meinungsforschungsinstituten belegte Tatsache. Die „Wissenschaftlichkeit“ des 228 Seiten starken LMP-Parteiprogramms kann auch kaum in Zweifel gezogen werden, wird es doch vom Philosophiedozenten Péter Rauschenberger gezeichnet und ist über lange Strecken in einem universitären Duktus verfasst. Und das ist für ein Parteiprogramm, das ja eigentlich breite Wählerschichten ansprechen soll, durchaus kein Lob. Mehr Bauchschmerzen bereitet mir da schon die Formulierung „… die Probleme des Landes präzise formuliert“; diese Formel aus der Feder von Peter Bognar hätte ich bei der Endredaktion so nicht stehen lassen dürfen, schon gar nicht, wenn auch mein Name unter dem Artikel steht. Soweit zum Artikel, ich würde aber in meiner Reaktion gerne noch ein wenig weiter ausholen, denn tatsächlich halte ich die von Ihnen skizzierte Konzeption von Ethos für verfehlt. Die „politische Ethik“ lassen wir im Ungarn des Jahres 2010 am Besten ganz beiseite. Interessanter ist da schon die von Ihnen angesprochene „journalistische Ethik“ oder überhaupt der Begriff des Berufsethos. Folgt man Ihrer Argumentation, dürfte sich kaum jemand mit Politik beschäftigen. Ganz bestimmt nicht der renommierte Historiker Krisztián Ungváry, der ebenfalls für LMP kandidiert und tatsächlich auch schon desöfteren für die Budapester Zeitung geschrieben hat. Das politische Engagement aller Universitätsdozenten von Tibor Navracsics über Lajos Bokros bis hin zu Krisztina Morvai ist, will man dieser Argumentation folgen, ebenfalls heikel, denn schließlich können sie ja im Hörsaal problemlos politisch agitieren – und werden dafür auch noch vom Staat bezahlt. Über Ärzte, die sich politisch engagieren, sollte man sich als potenzieller Patient am besten gar keine Gedanken machen; das hat MSZP-Spitzenkandidat Attila Mesterházy schon getan, der sich öffentlich um die Gesundheit seines in den Händen von Fidesz wählenden Ärzten befindlichen Vaters sorgte – und dafür prompt bitteren Protest der Ärztevereinigungen kassierte. Gar nicht in diesem Koordinatensystem einzuordnen ist schließlich der Rechtsanwalt András Schiffer, der vor einiger Zeit Viktor Orbán vor Gericht verteidigte. Heute treten die beiden Männer als Spitzenkandidaten zweier Parteien gegeneinander an. Kurz und gut: Denkt man Ihre Konzeption von Berufsethos konsequent zu Ende, ergibt sich, dass eigentlich nur noch Leute Politik machen dürften, die das professionell und gegen Entlohnung tun. Dies ist nämlich der einzige Fall, in dem sich garantiert keine potenziellen Konflikte auftun. Aber gerade von dieser Art Politiker, denke ich, haben die ungarischen Bürger unabhängig von ihrer Parteipräferenz die Nase gestrichen voll. Ich bin demgegenüber der Ansicht, dass man die Politik wieder den Bürgern in die Hände geben muss. Dass die Menschen sich in ihrer Freizeit offen politisch engagieren und dafür keine Retorsionen befürchten müssen, ist für mich Zeichen einer hoch entwickelten bürgerlichen Gesellschaftskultur, von der wir in Ungarn heute leider sehr weit entfernt sind. Viele versuchen heute, nicht nur bei Journalisten, sondern auch bei Lehrern, beim Friseur oder im Bekanntenkreis zu erkennen, ob jemand diese oder jene politische Präferenz aufweist, und tun im Erfolgsfall ein bisschen so, als sei die betreffende Person ertappt. Aber wenn wir von der Konzeption der griechischen Polis und des Mündigen Bürgers ausgehen, ist es doch toll, wenn jemand sich in seiner Freizeit und auf eigene Kosten politisch engagiert! Ich jedenfalls bin so sozialisiert worden, und bin glücklich darüber, dass ich Gelegenheit habe, eine von mir präferierte politische Gruppierung mit meiner ehrenamtlichen Arbeit zu unterstützen. Und ich bin meinem Arbeitgeber, dem BZ-Verleger Jan Mainka dankbar, dass er – trotz aller inhaltlicher Differenzen – diese Konzeption des mündigen, ganzheitlichen Bürgers ebenfalls für richtig hält und mein politisches Engagement toleriert. Mit freundlichen Grüßen, Gergely Kispál