Es ist nicht einfach nur ein Roman mit Wörtern und Sinninhalten, den Hertha Müller mit ihrer ,,Atemschaukel“ vorlegt. Die Nobelpreisträgerin schafft es, ihren Worten Nährwert zu geben. So transportiert sie dem Leser eine Ahnung davon, was es bedeutet, statt Lebensmitteln nur deren Namen in ausreichender Menge zur Verfügung zu haben.
Hertha Müllers Protagonist ist ein 17-jähriger Junge, Leo, der als Siebenbürger Sachse nach Russland zum ,,Wiederaufbau“ geschickt wird. Der Abschied vom Elternhaus fällt ihm zunächst nicht schwer, da er sich als Homosexueller vor einer Entdeckung seiner Liebesabenteuer und der entsprechenden Ahndung der sittlichen Verbrechen fürchtet. Während der Zugfahrt beherrscht ihn eine zuversichtliche Neugier auf das Kommende. Im Lager jedoch vertreibt der Hunger bald die Gefühle, der Überlebenskampf diktiert, woran Leo denken kann, woran nicht. Es sind einzelne eindrückliche Bilder und Situationen, die Hertha Müller in je einzelnen Kapiteln beschreibt, entsprechend der menschlichen Erinnerung. Eine Chronologie der Ereignisse ist nur am Anfang des Romans, bei der Ankunft im Lager und am Schluss, vom letzten Lagerjahr an, nachvollziehbar. Dazwischen verschmelzen die Jahre; lediglich an der wachsenden Zahl der Toten ist hier ,,Zeit“ messbar. Doch darf ihrer nicht gedacht werden. Auch nicht der Methode, wie sie im Winter unter die Erde gebracht werden: Um kein großes Loch in den gefrorenen Boden hacken zu müssen, werden die Leichen im Freien gelagert, bis sie steif gefroren sind, und dann zerhackt. Doch die Beschreibung dient nur der Warnung: ,,Stirb nicht im Winter!“. Genau wie alle anderen Worte, die im Lager gewechselt werden, hat auch diese Beschreibung einen Zweck. Alltäglichere Gespräche dienen dazu, um vom allgegenwärtigen Hunger abzulenken oder um das stechende Heimweh zu vertreiben.
Erschreckender aber als die Erzählungen sind die Gegenstände des Lagers, die ein Eigenleben entwickeln. So spielt der Zement seinem Träger Streiche: Er darf nicht verschwendet werden, aber er tut alles, um nicht an seinen Bestimmungsort zu gelangen. Er setzt sich in die Augen, verklebt bei Regen in seinem Sack, um dann zentnerschwer auf den Schultern des Trägers zu lasten. Doch gerade durch Dinge, denen Helga Müller eigene Namen gibt, gewinnt der Roman seine eigene Poesie: Die ,,Herzschaufel“ hilft Leo beim Kohleabladen, gegen den ,,Hungerengel“ anzukämpfen; ,,Hasoweh“ ist das Pfeifen des Wasserkessels, aber auch das Aushauchen des Lebens. Auch ,,Eintropfenzuvielglück“ ist ein Pseudonym des Lagertods, der ,,weiße Hase im Gesicht“ ist der Vorbote des Verhungerns.
Ihre volle Wirkung entfaltet die bittere Wirklichkeit aber nicht während der Lagerzeit. In seine Heimat zurückgekehrt, muss Leo feststellen, dass ihn das Lager nie wieder verlassen wird. Denn zu Hause kann er die Suppe nicht mehr essen, wie er es als Sohn gelernt hat. Immer noch diktiert ihm die Erinnerung an den Hunger den Rhythmus, weswegen er gemeinsame Mahlzeiten meidet. Weil ihn niemand nach seinen Erlebnissen fragt, findet er keine Worte. So lähmt das Mitleid die ganze Familie.
Hertha Müller ist mit ,,Atemschaukel“ das Kunststück gelungen, den Lageralltag in seiner vollen Wucht zu beschreiben und ihm gleichzeitig mit einer kraftvollen Poetik eine Schönheit zu verleihen, die nichts beschönigt.