Rückblickend wirkt die Grenzöffnung vom 11. September 1989 zwar als großer, aber doch reichlich alternativloser, ja geradezu zwangsläufiger Schritt. Umso überraschender ist es für den heutigen Leser zu erfahren, welches langwierige und zähe Ringen der befreienden Entscheidung voranging.
Genau dieses Knäuel aus vitalen Interessen, vertraglichen Verpflichtungen und nicht zuletzt der normativen Kraft des Faktischen zu entwirren, hat sich der gebürtige Ungar und langjährige Osteuropakorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, Andreas Oplatka, zum Ziel gesetzt. In seinem Buch geht es ihm daher weniger um die Beschreibung der damaligen Ereignisse, sondern in erster Linie um die Aufdeckung der hinter ihnen stehenden Triebkräfte, also um die politische Geschichte der Grenzöffnung.
Bemerkenswert ist dabei, dass die wesentlichen Triebkräfte erst einmal wenig mit der ungarischen Politik zu tun haben. Da ist im Jahr 1989 zum einem der erbärmliche technische Zustand des Signalzauns, der auf zwei Lösungsmöglichkeiten drängt: Kostspielige Modernisierung oder Abbau. Da es für die erste Alternative weder Geld noch Gründe gibt, landen die ungarischen Entscheidungsträger schnell bei der zweiten und beschließen, den veralteten Signalzaun zu schleifen. Dieser Schritt schafft wiederum neue vollendete Tatsachen, namentlich in Gestalt von DDR-Bürgern, die die Nachricht von der angeblich offenen Grenze mit Beginn der Sommerferien zu Tausenden mit dem Endziel Bundesrepublik nach Ungarn zieht.
Németh zu Besuch in Moskau
Soweit die eher technischen Determinanten. Als gewichtigster externer Faktor gilt unzweifelhaft die Sowjetunion. Schnell stellt sich aber heraus, dass sie angesichts viel größerer eigener Sorgen ihr Interesse an ihrem noch drei Jahrzehnte zuvor so vehement verteidigten osteuropäischen Beutegut Ungarn nahezu verloren hat. Als Ministerpräsident Miklós Németh bei einer Moskau-Visite im März 1989 KPdSU-Chef Gorbatschow pflichtgetreu und nicht ohne Bedenken über den Abbau der Grenzanlagen informiert und sogar auf eine mögliche Flüchtlingsgefahr hinweist, entgegnet ihm Gorbatschow nur beiläufig „Ich sehe da, ehrlich gesagt, gar kein Problem.“
Auf eine nochmalige Nachfrage – Németh ist sich nach dieser verblüffenden Antwort nämlich nicht mehr sicher, ob sein Gegenüber das aufgeworfene Problem überhaupt richtig erfasst hat – stammelt der sonst so selbstsichere und eloquente Ministerpräsident nur verlegen: „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“ Schließlich beendet Gorbatschow das Gespräch mit den klaren Worten: „Solange ich auf diesem Stuhl sitze, wird es kein neues 1956 geben.“ Von seiner Entscheidung, sich nicht mehr in die inneren Angelegenheiten Ungarns einzumischen, rückt er auch im Folgenden nicht mehr ab. Als ihn etwa Ost-Berlin und Bukarest gegen Ungarn aufhetzen wollen, lässt er die Hardliner kalt abblitzen.
Eigentlich hätte Ungarn in dieser Situation sofort entsprechend handeln und das Flüchtlingsproblem bereits im Frühsommer auf die einzig realistische Weise lösen können. Warum es nicht sofort dazu kam, davon handelt der größte Teil von Oplatkas Buch. Ausführlich beschreibt der Autor, wie die tonangebenden ungarischen Politiker wochenlang nicht anderes machen, als intern zu diskutieren, sich beim „großen Bruder“ wieder und wieder rückzuversichern, im entscheidenden bilateralen Vertrag mit der DDR von 1969 nach möglichen Schlupftoren zu suchen, mit Vertretern der DDR diplomatische Noten auszutauschen oder – es ist Hochsommer und auch Politiker sind Menschen – einfach nur in den Urlaub zu fahren.
Grenzer allein gelassen
Hinter dieser zögerlichen Haltung erkennt Oplatka immer wieder Ungarns Wunsch, es sich möglichst mit keinem der beiden Deutschlands zu verscherzen und, nach der bitteren Erfahrung von 1956 erst recht, jegliches Risiko von Seiten der Sowjetunion auszuschließen. Erst als die Sowjets nach zwei Testballons (Massenflucht beim Paneuropäischen Picknick am 19. August und die Ausreise von 108 Botschaftsflüchtlingen am 24. August in die BRD) immer noch keine Miene verziehen, hat Ungarn genug Mut zusammen, um sich zur allgemeinen Grenzöffnung durchzuringen. Sicher ließ auch der tödliche Unfall im Grenzgebiet bei Kőszeg am 21. August auf ungarischer Seite die Erkenntnis reifen, dass auch Nichtstun riskant sein kann.
Symptomatisch für die damalige Risikovermeidungstaktik Ungarns sind übrigens die widersprüchlichen Begleitumstände des Paneuropäischen Picknicks, dem Oplatka ein separates Kapitel widmet. So habe zwar die Regierung einschließlich des Innenministers mehrheitlich hinter dem Treffen gestanden („In Némeths Konzeption galt das Picknick von Anfang an als ein Test“), nur hatte sie es versäumt, die Grenzwache vor Ort entsprechend in Kenntnis zu setzen. „Etwas lief schief; so schief, dass das Picknick leicht zu einem tragischen Ereignis hätte werden können“, befindet Oplatka ungeschminkt.
Nicht einmal Warnschüsse abgegeben
Weil sich die ungarische Führung erneut nicht klar nach außen positionieren wollte, überließ sie den Ausgang des Picknicks sich selbst und setzte nicht einmal die Grenzschützer vor Ort über die anstehende Massenflucht in Kenntnis. Fahrlässig nahm sie an, dass diese angesichts der Zeichen der Zeit die Lage schon selbst richtig deuten und in der politisch opportunen Weise handeln würden. „Der Grenzschutz war aber klare Befehle gewohnt, sonst nichts“, merkt Oplatka an. „Und der lautete auch für den Nachmittag des 19. August in Sopronpuszta, dem Schauplatz des Picknicks, jeden unerlaubten Grenzübertritt zu verhindern.“
Ja, mehr noch: Wie Oplatka herausgefunden hat, sei zwei Tage vor dem Picknick beim Grenzkommando von Sopron eine Mitteilung der Zentrale eingegangen, wonach in der nächsten Zeit an der Grenze mit größeren Gruppen von DDR-Bürgern zu rechnen sei. Diese Gruppen seien durch eine verdichtete Patrouillentätigkeit am Überqueren der Grenze zu hindern; Waffengebrauch sei auszuschließen, außer bei Angriffen auf Mitglieder der Grenzwache. Provokativ fragt denn auch Oplatka, ob der Tatbestand der Selbstverteidigung auch dann erfüllt sei, wenn sich eine flüchtende Menge anschickt, Grenzposten über den Haufen zu rennen.
Der Befehlshaber vor Ort, Oberstleutnant Árpád Bella, musste diese Frage jedenfalls für sich alleine beantworten. Erst recht, da er in den ersten vierzig Minuten, nachdem der erste DDR-Flüchtling das Grenztor passiert hatte, seine Vorgesetzten nicht einmal telefonisch erreichen konnte. „Im entscheidenden Moment wurde Bella alleingelassen und die Verantwortung auf ihn abgewälzt“, so Oplatkas Einschätzung. Als sich dann endlich der örtliche Stabschef blicken ließ, musste sich Bella von ihm verblüffenderweise den Vorwurf gefallen lassen, nicht einmal Warnschüsse abgegeben zu haben. Dermaßen zusammengestaucht, rechnete der später gefeierte Oberstleutnant damals mit einer Suspendierung vom Dienst und einem Disziplinarverfahren.
Oplatka räumt mit Klischees auf
Oplatka räumt aber nicht nur mit dem Klischee von der mutig und entschlossen handelnden ungarischen Regierung auf. Ebenso kann er nicht nachvollziehen, warum der damalige Außenminister Gyula Horn in den Folgejahren vor allem von deutscher Seite zum großen „Grenzöffner“ hochstilisiert wurde. „Die Hauptrolle, kein Zweifel, kam Ministerpräsident Miklós Németh zu. Er trieb die Lösung voran, und kraft seines Amtes war er derjenige, der die Entscheidung fällte und dafür die politische Verantwortung trug.“ Horn würdigt der Autor lediglich hinsichtlich seines „maßgeblichen Beitrags zur operativen Abwicklung“.
Das Buch kann ohne Übertreibung zu den Standardwerken über das Wendejahr 1989 gezählt werden. Ihm liegen nicht nur ein akribisches Studium der zugänglichen relevanten Dokumente zugrunde – wobei jedoch noch etliche unter Verschluss sind oder bisher noch nicht gefunden wurden –, sondern auch Interviews mit etwa 70 beteiligten hochrangigen Zeitzeugen, darunter Németh, Horn, Gorbatschow, SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, dem BRD-Politiker Horst Teltschik sowie den beiden damaligen deutschen Botschaftern, Alexander Arnot (BRD) und Gerd Vehres (DDR). Für die hohe Präzision Oplatkas spricht, dass er es – selbst bei scheinbaren Nebensächlichkeiten – nie unterlässt, den Leser auf Fehler in den Erinnerungen der Zeitzeugen aufmerksam zu machen.
Andreas Oplatka:
„Der erste Riss in der Mauer“
Zsolnay Verlag, Wien
Preis: 21,50 Euro
ISBN: 978-3-552-05459-2
Erhältlich auch bei Hungaropress, über
www.hungaropress.hu