Die Jubelbilder mit Ostdeutschen, die ab dem Spätsommer 1989 unbehelligt Ungarn gen Westen verlassen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ungarischen Machthaber ihren ostdeutschen Genossen bis dahin jahrzehntelang willfährig zur Seite standen, wenn es darum ging, dem Freiheitsdrang von DDR-Bürgern einen Riegel vorzuschieben. Für Tausende Ostdeutsche begann das Martyrium durch DDR-Gefängnisse zunächst in einer ungarischen Zelle. Einer von ihnen war Hardy Grahl.
Zu seinem Pech hatte er ein gutes Jahr zu früh beschlossen, der DDR über Ungarn den Rücken zu kehren. Seine Pechsträhne begann aber nicht erst 1988, sondern bereits im Sommer 1984, als er mit seiner damaligen Freundin Urlaub in der Tschechoslowakei machte. Dabei stattete das Urlaubspaar auch der Hauptstadt Prag einen Besuch ab. Ein zielloser Spaziergang führte die beiden dort auch unbewusst in die Nähe des Palais Lobkovicz, dem Sitz der westdeutschen Botschaft und schon damals Zielort vieler ostdeutscher Ausreisewilliger. An die örtliche Nähe zu diesem brisanten Gebäude wurde sie dann jedoch urplötzlich von tschechischen Sicherheitsbeamten erinnert, die sie „vorsorglich“ verhafteten. Noch größer wurde ihre Überraschung, als sie sich nach ihrer Überstellung in die DDR mit dem Vorwurf der Republikflucht konfrontiert sahen.
Nachweisen konnte man den beiden freilich nichts. Schließlich waren sie wirklich nur arglose Spaziergänger. Zwölf Stunden später waren sie wieder frei. Die Staatsmacht entschuldigte sich bei ihnen sogar für den „bedauerlichen Vorfall“. „Die Vorwürfe waren lächerlich. Zu diesem Zeitpunkt gab es bei mir keinen Gedanken an Flucht. Warum auch? Für die bescheidenen DDR-Verhältnisse hatte ich doch alles, was ich wollte. Ich war mit meinem Leben zufrieden“, erinnert sich der vermeintliche Flüchtling. Seine Erleichterung über den glücklichen Ausgang der Begegnung mit der Staatsmacht hatte jedoch schlagartig ein Ende, als der leidenschaftliche Reisende auf einmal erfuhr, dass er keine Visa mehr bekam. Der für normale Ostdeutsche ohnehin schon winzige erreichbare Teil der Welt war für ihn damit auf einen noch kleineren Teil zusammengeschrumpft. Vor allem wurde ihm aber bewusst, dass er bei den DDR-Machthabern aus heiterem Himmel in Ungnade gefallen war.
So musste er sich jetzt auf weitere Einengungen seines Spielraums und weitere Demütigungen gefasst machen. Daraufhin stellte er kurz entschlossen einen Ausreiseantrag. Wie in der Regel üblich, wurde dieser zunächst abschlägig beschieden. Dafür nahmen die Schikanen zu. Schließlich drohte Grahl für den Herbst 1988 die Einberufung zur Armee. Dies war damals ein probates Mittel der Machthaber, um unbotmäßige Bürger mittels der wesentlich härteren Militärgesetzgebung in Schach zu halten. Das absehbare Ende seiner verbliebenen Freiheiten ließ Grahl schließlich nur noch einen Weg: Die Flucht nach vorn, das hieß in diesen Fall: Flucht aus seinem Vaterland. Sein Wille stand unerschütterlich fest, jetzt bedurfte es nur noch eines Weges. Die Zeit drängte.
Für einen Drachenflieger-Bauplan nach Prag
Riskante Fluchtvarianten schieden für ihn sofort aus. Sein Leben wollte er nun doch nicht riskieren. Als er von der gelungenen Flucht einer Familie mit einem Heißluftballon hörte, kam ihm die Idee, es mit einem Drachenflieger zu versuchen. Das war jedoch leichter gedacht als getan. Wegen seiner Eignung als Fluchtmittel gab es derartige Sportgeräte natürlich nicht einfach zu kaufen. So kam nur Selberbauen in Frage. Systematisch besorgte er sich nach und nach alle möglichen Materialien für den Flieger. Inmitten der Mangelwirtschaft und wegen der gebotenen Vorsicht war dies kein leichtes Unterfangen. Als er schließlich alles zusammenhatte, stellte sich ein neues Problem: Wie daraus einen Drachenflieger basteln? Verschiedene DDR-Bibliotheken erwiesen sich bezüglich eines Bauplanes natürlich als Fehlanzeige.
So versuchte es Grahl kurzentschlossen in der – zumindest was Drachenfliegerbaupläne betrifft – vermeintlich liberaleren Tschechoslowakei. In der Prager Nationalbibliothek wurde er schließlich nach langem Suchen fündig. Freudig hielt er ein Buch in den Händen, in dem er sein Flugticket in den Westen erblickte. Allerdings erwiesen sich die Baupläne darin als stark textlastig – zumal in Tschechisch. Ein älterer Herr, dem sich Grahl hilfesuchend anvertraute, blickte kurz in das Buch und dann vielsagend zu seinem hoffnungsfrohen Leser: „Das, was Sie suchen mein Herr, finden Sie in dem Buch nicht“. Aus der Traum! Was nun? Nach langem Abwägen entschied er sich, die Flucht mit seiner damaligen Freundin über die grüne Grenze von Ungarn nach Jugoslawien zu versuchen.
Dazu mussten sie jedoch erst einmal nach Ungarn. Für seine Freundin war dies kein Problem: Sie hatte sich vorsorglich ein Visum für Ungarn besorgt. Grahl hatte jedoch nicht einmal mehr die Chance auf ein Ungarn-Visum. So trennten sie sich vor der Grenze. Seine Freundin überquerte sie offiziell, Hardy Grahl wählte notgedrungen eine Alternative. Ein erster Versuch, über die Donau nach Ungarn zu kommen, scheiterte zunächst. Ein zweiter Versuch des Nachts durch ein Sumpfgebiet bei Szob glückte schließlich. Nachdem er sich, in Ungarn angekommen, erst einmal gesäubert hatte, wanderte er in die nächste Kleinstadt, kaufte sich einen Busfahrschein und fuhr nach Budapest. Am vereinbarten Treffpunkt – der Uhr vorm Westbahnhof – traf er seine Freundin wieder.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Budapest ging es weiter nach Süden. Jetzt allein, denn das Paar hatte entschieden, dass Grahl die Flucht lieber allein wagen und seine Freundin dann in die Bundesrepublik nachholen sollte. Ein westdeutscher Kleinbus, dessen Insassen von Grahls Vorhaben begeistert waren, brachte ihn des Nachts dicht an die jugoslawische Grenze. Sorgsam hatte er sich die Lage der grenznahen Dörfer eingeprägt und sich sogar mit einem Kompass ausgerüstet. Auch an Gummistiefel hatte er nach seinem Erlebnis im tschechoslowakisch-ungarischen Sumpf gedacht. Voller Hoffnung stiefelte er los. Und dann geschah das für ihn bis heute Unbegreifliche: Sein Kompass begann verrückt zu spielen und wies ihm keine klare Richtung mehr. Ohne feste Orientierung irrte er stundenlang im Grenzgebiet umher.
„Das herrliche ungarische Weißbrot!“
Seine Hoffnung schwand immer mehr. Zu seinem Pech lief er dann auch noch einem ungarischen Grenzposten direkt in die Arme. In dieser Situation halfen ihm alle Ausreden nichts mehr, die Umstände sprachen eine zu deutliche Sprache gegen ihn. Der ungarische Posten nahm ihn fest und verständigte per Feldtelefon seine Kameraden. Geistesgegenwärtig gelang es Grahl zwar noch, den Posten eine Böschung herunterzustoßen und in ein Maisfeld zu flüchten. Zu seinem Schrecken waren die Pflanzen jedoch noch nicht sehr hoch und boten ihm nur eine ungenügende Deckung. Als er erste Schüsse hörte und sah, dass die alarmierten Kameraden des gefoppten Postens das Feld zu durchkämmen begannen, stand er auf und ergab sich. Seine Flucht war vorbei. Zu seinem Glück erwiesen sich die ungarischen Grenzschützer zumindest wegen des Angriffs auf ihren Kameraden nicht als nachtragend. Im Gegenteil: Aus ihren Gesten vermeinte Grahl so etwas wie Schadenfreude und Anerkennung für die geschickte Überrumpelung ihres Kameraden zu spüren.
Letztendlich wurde er von den Grenzern in eine Zelle gesperrt. Wenig später überstellten sie ihn in ein Gefängnis nach Szeged. Seine ungarischen Wärter verhielten sich die ganze Zeit über korrekt zu ihm. Kein Groll und keine Schikanen. Es gab sogar ein Detail, an das er sich bis heute noch freudig erinnert: „Das herrliche ungarische Weißbrot!“ Nach knapp zwei Wochen in Szeged wurde er nach Budapest überstellt. Hier traf er auch zum ersten Mal seit seiner Verhaftung mit einem DDR-Beamten zusammen. Mit einer Sondermaschine der Interflug wurden er und weitere Aufgegriffene der DDR überdrüssige Bürger schließlich nach Berlin-Schönefeld geflogen. Von dort wurden sie in einem als Fischauto getarnten Gefangenentransporter ins Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen gefahren. Schließlich kam er nach Halle, wo ihm wegen Republikflucht der Prozess gemacht wurde. Das Urteil: anderthalb Jahre Gefängnis. Bittere Ironie des Schicksals: Einen Tag nachdem er sein Strafmaß bis auf den letzten Tag abgesessen hatte, fiel die Berliner Mauer. Immerhin: Seine unbehelligt gebliebene Freundin hatte ihm die ganze Zeit über die Treue gehalten.