Walburga Habsburg Douglas, die jüngste Tochter von Otto von Habsburg und seiner Frau Regina, war 1989 als Generalsekretärin der Paneuropa-Union und Vertreterin ihres Vaters, der neben dem ungarischen Staatsminister Imre Pozsgay Schirmherr des Paneuropäischen Picknicks am 19. August war, maßgeblich für das Zustandekommen dieser Veranstaltung verantwortlich. Gegenüber der Budapester Zeitung erinnert sie sich – inzwischen ist sie Abgeordnete im schwedischen Reichstag – an den August 1989.
Wie verlief der 19. August in Sopron?
Zunächst einmal gab es eine Pressekonferenz. Von dort sind wir zu Fuß zur Grenze gegangen. Dort angekommen habe ich zunächst mit den Grenzern gesprochen. Anschließend habe ich für die Kameras kurz zur Drahtschere gegriffen und ein paar symbolische Schnitte an einem Zaun gemacht (siehe Foto unten). Nach etwa einer Stunde sind wir von dort zu dem Platz gegangen, an dem das eigentliche Picknick stattfand. Dort gab es meiner Erinnerung nach drei Reden: Eine von László Vass, der in Vertretung von Imre Pozsgay an der Veranstaltung teilnahm, eine vom Schriftsteller György Konrád und schließlich eine von mir. Währenddessen wurde das berühmt gewordene Tor geöffnet.
Wie wurde aus einem österreichisch-ungarischen Picknick eine Fluchtveranstaltung für Ostdeutsche?
Im Juni, als wir an die Planung der Veranstaltung gingen, schwebte uns tatsächlich nur ein Treffen zwischen Österreichern und Ungarn direkt an der Grenze vor. Als dann im Juli mit dem Beginn der Sommerferien in der DDR eine immer größere Zahl von Ausreisewilligen in Ungarn eintraf, begannen wir über eine Akzentverschiebung des ursprünglich geplanten Picknicks nachzudenken. Dass wir uns schließlich dazu entschlossen, auch ostdeutsche Flüchtlinge in unsere Veranstaltung mit einzubeziehen, war alles andere als abwegig: Oberstes Ziel der Paneuropa-Union war ja nicht zuletzt die Überwindung der Teilung Europas. Es war für uns daher völlig natürlich, dass wir in der gegebenen Situation mit unserer Organisation halfen.
Welche Gespräche gab es im Vorfeld?
Unter anderem mit dem Sekretariat von Imre Pozsgay. Natürlich hatte ich auch Kontakt mit der westdeutschen Botschaft.
Hatten Sie hier bereits die Karten auf den Tisch gelegt?
Nein, überhaupt nicht. Wir haben uns nur über den organisatorischen Ablauf der Veranstaltung unterhalten. Die Karten auf den Tisch gelegt hat wohl eher mein Vater im Gespräch mit Imre Pozsgay. Aber was genau besprochen wurde, weiß ich bis heute nicht. Auch im Nachhinein haben wir wenig darüber gesprochen. Damals war ich zudem die ganze Zeit über in Ungarn und hatte wenig Kontakt zu meinem Vater. Ich konnte damals nur über das offene Telefon mit ihm sprechen. Und das war eher mühsam. Mobiltelefone gab es noch nicht. Auslandstelefonate mussten im Hauptpostamt angemeldet werden und gingen mit einer gehörigen Wartezeit einher.
Wie vollzog sich die Änderung des Charakters Ihrer Veranstaltung?
Irgendwann war klar, dass die ursprüngliche Veranstaltung einen anderen Charakter bekommen würde. Aber das geschah nicht auf telefonische Anweisung meines Vaters, sondern ergab sich schrittweise aus der Situation. Ich war selbst in den Flüchtlingslagern in Zugliget und am Balaton mit seinen immer unhaltbareren Zuständen. Dort konnte ich den sich aufbauenden Druck hautnah spüren. Es war klar, dass dieser Druck immer mehr nach Lösungen verlangte. Es musste etwas geschehen. Als ein Ventil bot sich da idealerweise unser Picknick an. Viel vollzog sich damals weniger bewusst geplant als aus der Eigendynamik der Situation.
Ihre gelungene Aktion wird im Nachhinein als Testballon für die allgemeine Grenzöffnung am 11. September betrachtet. War Ihnen damals die ganze Tragweite Ihrer Aktion bewusst?
Nein, auf keinen Fall. Uns war nicht klar, dass unsere Grenzöffnung letztlich zur Öffnung des Eisernen Vorhangs führen würde. Im Vordergrund stand für mich in dieser ganz konkreten Situation damals, so vielen Menschen wie möglich aus ihrer bedrängten Lage zu helfen. Die Möglichkeit, Weltpolitik zu machen, kam in meinem Kalkül nicht vor. Ich war begeistert, dass ich im Sinne meiner Organisation und nicht zuletzt auch meiner inneren Überzeugung Menschen in Not helfen konnte. Als ich schrittweise mitbekam, wohin das alles führen konnte, war ich noch begeisterter. Viele Jahre lang war mein gesellschaftliches Engagement darauf gerichtet gewesen, den grauenvollen Eisernen Vorhang endlich wegzubekommen. Am 19. August war ich mir der Tragweite der Ereignisse aber noch nicht voll bewusst. Es war wie im Auge eines Wirbelsturms. Ich habe einfach getan, was mir mein Gewissen befahl. So richtig bewusst über die große Dimension unserer Aktion wurde ich mir übrigens erst zwei Tage später, als ich zufällig in eine deutschsprachige Sendung von Radio Moskau hineinhörte. Es wurde gerade ein Interview mit dem SED-Chef Honecker übertragen, in dem sich dieser wahnsinnig böse über unser Picknick äußerte (siehe Kasten). Da wurde mir klar, welchen Hieb unsere Aktion auf das ostdeutsche Regime darstellte und dass dieser Schlag voll gesessen haben musste.
Hatten Sie keine Sorgen, dass sich Ihr Husarenstreich verselbständigen und die Sache böse enden könnte? Immerhin war der Grenzschutz von offizieller ungarischer Seite nicht richtig aufgeklärt worden und hatte für den Fall eines massenhaften Grenzdurchbruchs keine klare Dienstanweisung.
Ich bin nicht jemand, der sich fürchtet. Klar hatten wir uns am Abend zuvor überlegt, ob uns das Ganze nicht aus der Hand gleiten könnte. Aber dann haben wir uns gesagt: „Egal, ob es weggleitet, Hauptsache, die grobe Richtung stimmt.“ Gemeinsam mit anderen Organisatoren hatten wir einfach nicht das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Intuitiv spürten wir, dass keine Gefahr bestand. Wir haben uns diesbezüglich übrigens nicht zuletzt auch auf unsere ungarischen Mitorganisatoren verlassen.
Trotzdem sollen einige Grenzer damals etwas verwirrt gewesen sein. War das nicht gefährlich?
Die, mit denen ich gesprochen hatte, waren alles andere als verwirrt. Die fanden es völlig in Ordnung, nichts zu tun. Sie freuten sich regelrecht darüber, dass sie keine Gewalt anwenden mussten. Ein Grenzer sagte wörtlich zu mir: „Es ist so schön, dass endlich etwas passiert, auf das wir solange gehofft haben.“ Von Menschen, die so denken, konnte einfach keine Gefahr für uns ausgehen. Zumal sie sich in einer Zwangssituation befanden. Auf der einen Seite durften sie nicht schießen, auf der anderen waren sie aber nicht in der Lage, mit bloßen Händen den Flüchtlingsstrom aufzuhalten. Was sollten in dieser Situation auch sechs Grenzer gegen mehr als 600 Flüchtlinge unternehmen? Gar nichts, als sich friedlich an den Rand zu stellen und die Massen gewähren zu lassen!
Was hatte es mit dem Tor für eine Bewandtnis? Es macht nicht gerade den Eindruck, ein Teil des Eisernen Vorhangs zu sein. Zumal die Grenzbefestigungen zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon im Wesentlichen verschwunden waren.
Es war kein offizieller Grenzübergang. Es war – glaube ich – sogar nur ein landwirtschaftliches Tor. Es eignete sich aber hervorragend für unsere Zwecke. Das, was wir vorhatten, konnte hier ausgezeichnet medial inszeniert werden. Die Begegnung der beiden Bürgermeister und die Grenzübertritte in beide Richtungen hätten auf einem offenen Feld natürlich nicht eine solche dramatische Wirkung entfalten können. Wir haben uns schließlich auch deshalb gerade für dieses Tor entschieden, weil es bequem zu Fuß vom Ort unserer Pressekonferenz zu erreichen war.
Trotz der unkontrollierten Grenzübertritte war im Nachhinein immer von genau 660 Flüchtlingen die Rede, die die Gunst der Stunde genutzt hatten. Wie kam man auf diese Zahl?
Ja, diese Zahl habe auch ich immer gehört – ich glaube als erstes von einem Vertreter der westdeutschen Botschaft. Ich glaube aber, mit letzter Sicherheit konnte damals niemand sagen, wie viele DDR-Flüchtlinge dank uns den Weg in die Freiheit gefunden hatten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand vor Ort die Flüchtlinge genau gezählt hat.
Welche Reaktionen gab es von ungarischer Seite?
Am nächsten Tag, dem 20. August, war ich in Budapest Gast der Feierlichkeiten zum ungarischen Nationalfeiertag und auch bei einem Empfang der Regierung zugegen. Ich war bezüglich der zu erwartenden Reaktionen schon ein wenig aufgeregt. Ich rechnete fest auch mit ablehnenden oder zumindest reservierten Reaktionen. Aber nichts dergleichen! Alle begegneten mir wahnsinnig nett und waren mir gegenüber sehr positiv eingestellt. „Grüß Gott!“, „Wie geht es Ihrem Vater?“, „Das war wohl richtig spannend gestern!“… Die Begegnungen und Gespräche waren völlig unverkrampft und entspannt.