Die Geschichte der elektronischen Signalanlage, die vom Ende der 1960er Jahre bis zum Frühjahr 1989 das Herzstück des „Eisernen Vorhangs“ an der ungarischen Westgrenze bildete, begann im Jahr 1965. Am 11. Mai beschloss das Politbüro der Un-garischen Sozialistischen Arbeiterpartei (MSZMP), die in der Sowjetunion entwickelte Anlage an der Grenze zu Österreich zu errichten.
Ein derartiges Grenzsicherheitssystem, das über keine todbringenden Einrichtungen wie Minen und Starkstrom verfügte, sondern lediglich illegale Grenzübertrittsversuche durch einen mit elektrotechnischen Mitteln ausgelösten Alarm signalisierte, war damals bereits in der Sowjetunion und in der Tschechoslowakei in Betrieb. Die elektronische Signalanlage ersetzte die aus gestaffelten Stacheldrahthindernissen, Signalraketen und Minenfeldern bestehenden „technischen Grenzsperren“, die im Zuge der Durchsetzung der kommunistischen Ordnung in Ungarn und im Zeichen des beginnenden „Kalten Krieges“ seit 1948/1949 aufgestellt und – nach ihrem Abbau im Herbst 1956 – 1957 wiedererrichtet worden waren.
Als es Jahrzehnte später, im Sommer 1987, im Rahmen von Planungen zur Modernisierung der Grenzbewachung zu einer Überprüfung der Funktion der Signalanlage kam, wurde deutlich, dass die Anlage mit rund 99% Fehlalarmen äußerst fehlerhaft funktionierte und ihre Betreibung mit steigenden Kosten einherging. Vor dem Hintergrund der internationalen Entspannung, der innenpolitischen Liberalisierung und wirtschaftlichen Öffnung Ungarns sowie der den Ungarn gewährten Reisefreiheit zum 1. Januar 1988 erwies sich die Einrichtung zudem als immer weniger zeitgemäß. Generalmajor János Székely, damals Oberbefehlshaber der ungarischen Grenztruppen, verfasste im Oktober 1987 eine streng geheime Denkschrift, in der er unter Verweis auf die technischen Probleme und die hohen Kosten der Anlage (der rostfreie Draht wurde aus dem Westen importiert!) sowie auf ihre „moralische Veralterung“ für ihren Abbau plädierte. Die Idee des Abbaus des „Eisernen Vorhangs“ wurde in Ungarn also bereits zu einer Zeit aufgeworfen, als ein derartiger Schritt an der tschechoslowakisch-westdeutschen oder an der deutsch-deutschen Grenze noch völlig undenkbar war. Bis zur tatsächlichen Entscheidung, die Signalanlage abzubauen und zu einer Bewachung der dann „grünen Grenze“ nach westlichem Muster überzugehen, sollten allerdings noch anderthalb Jahre vergehen. Dies lag einerseits daran, dass die Parteiführung offenbar Bedenken hinsichtlich der Reaktionen der Verbündeten hatte, andererseits waren ihre Energien durch die Krisenbekämpfung, die Politik des Übergangs zur Marktwirtschaft sowie durch die Frage der Nachfolge von Parteichef János Kádár gebunden. Erst als führende Politiker, darunter Staatsminister Imre Pozsgay und Innenminister István Horváth, seit Sommer/Herbst 1988 nachdrücklich auf einen Abbau drängten und man sich nunmehr auch des Stillhaltens der Sowjetunion weitgehend sicher war, beschloss das Politbüro am 28. Februar 1989, den „Eisernen Vorhang“ abzubauen und damit eine Lücke in das Grenzsicherungssystem des Ostblocks zu reißen. Nachdem der ungarische Grenzschutz bereits am 18. April 1989 im Zuge einer geheim gehaltenen Übung mit dem Abbau der Grenzanlagen begonnen hatte, wurde die Demontage schließlich am 2. Mai 1989 auf einer spektakulären internationalen Pressekonferenz vom stellvertretenden Oberbefehlshaber der Grenztruppen, Oberst Balázs Nováky, offiziell angekündigt. In den folgenden Wochen machte der Abbau rasche Fortschritte. Als sich Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock am 27. Juni 1989 an der Grenze zu ihrem „historischen Drahtdurchschneiden“ trafen, war der Großteil des „Eisernen Vorhangs“ bereits demontiert und es musste angestrengt nach einer Stelle gesucht werden, an der die Signalanlage noch intakt war.
Ungarns Entscheidung für den Westen – die Öffnung der Grenze
Im Zuge des demonstrativen Abbaus der Grenzanlage häuften sich seit Mai/Juni 1989 an der ungarischen Westgrenze die Versuche von Bürgern der DDR, über Ungarn nach Österreich zu gelangen. Trotz der Tatsache, dass aufgegriffene Grenzverletzer damals in der Regel noch verhaftet und – gemäß den bilateralen Vereinbarungen mit Ostberlin – in die DDR abgeschoben wurden, schwoll die Flüchtlingswelle mit dem Beginn der Sommerferien in Ostdeutschland gewaltig an.
Als Ungarn in der zweiten Augustwoche dann überdies seinen Verpflichtungen, die sich aus dem Beitritt des Landes zur Genfer Flüchtlingskonvention im März 1989 ergaben, nachkam und damit auch die Abkommen mit der DDR unterlief, erhielt die Fluchtbewegung einen weiteren Impuls. Gemäß einer entsprechenden Direktive sollten die Grenzverletzer nun nämlich nicht mehr in ihr Heimatland abgeschoben, sondern in Ungarn zur Verantwortung gezogen werden. Für den Fall, dass ein – wie auch immer gearteter – „triftiger Grund“ für die Grenzverletzung vorlag, sollte nicht einmal mehr ein Strafverfahren eingeleitet, sondern lediglich ein Verweis erteilt werden. In der Praxis überstellten die ungarischen Grenzer die bei einem Fluchtversuch aufgegriffenen Personen – selbst im Wiederholungsfalle oder bei Gewaltanwendung – seit August 1989 nicht mehr der Polizei, sondern schickten sie lediglich ins Landesinnere zurück.
Mit einem Schusswaffengebrauch der Grenzer mussten die Grenzflüchtlinge seit Frühjahr 1989 nicht mehr rechnen, da der „Schießbefehl“ vom Oberbefehlshaber des Grenzschutzes Székely stillschweigend außer Kraft gesetzt worden war.
Vor diesem Hintergrund erreichte die Fluchtwelle am Wochenende vom 18. bis 20. August 1989 ihren Höhepunkt. In diesen drei Tagen gelang es mehr als 1.200 Personen, nach Österreich zu fliehen, und es kam zu einer Reihe von ernsten Zwischenfällen bei gewaltsamen Durchbruchversuchen von DDR-Bürgern. Die Ordnung an der Grenze war nicht mehr aufrecht zu erhalten. Zu spektakulären Ereignissen kam es in diesen Tagen auch während des sogenannten Paneuropa-Picknicks vom 19. August 1989. Die Idee zu einer derartigen Veranstaltung war, noch vor dem Beginn der Fluchtwelle und ursprünglich als ungarisch-österreichisches Freundschaftstreffen an der Grenze, von einem Oppositionsvertreter des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF) im Juni 1989 aufgeworfen worden. Diese Veranstaltung, die unter der Schirmherrschaft von Staatsminister und Politbüromitglied Imre Pozsgay sowie von Otto von Habsburg stand, wurde von zahlreichen Bürgern der DDR, die zuvor von den Veranstaltern, aus ungarischen Regierungskreisen und – möglicherweise – auch von westdeutschen Stellen von der Veranstaltung informiert worden waren, dazu genutzt, um nach Österreich zu fliehen. Das „Grenzpicknick“ wurde damit zu einer – beabsichtigten oder unbeabsichtigten – ersten „kleinen Grenzöffnung“.
Die unkontrollierbare Situation an der Grenze sowie die zahlreichen Ostdeutschen, die in provisorischen Flüchtlingslagern in Ungarn untergebracht waren, brachten die ungarische Politik in immer größeren Zugzwang. Nachdem Budapest anfänglich das Flüchtlingsproblem als eine deutsch-deutsche Angelegenheit angesehen hatte, wurde bald klar, dass diese Haltung zu keinem Ergebnis führen konnte, und dass nach einer anderen Lösung gesucht werden musste. Ein Weg, nämlich die gewaltsame Abschiebung der DDR-Bürger, war aufgrund der großen Anzahl der Flüchtlinge sowie der Tatsache, dass Ungarn damit seine Demokratisierungspolitik diskreditiert sowie die ökonomische Stabilisierung und den Übergang zur Marktwirtschaft gefährdet hätte (man bedenke die wirtschaftliche und finanzielle Abhängigkeit vom Westen und insbesondere von der Bundesrepublik), von vorneherein ausgeschlossen. Die zweite Möglichkeit, nämlich auf eine freiwillige Rückkehr der DDR-Bürger im Herbst, also mit Einbruch der kalten Jahreszeit, zu hoffen beziehungsweise das Problem „auszusitzen“, war wenig realistisch. Die dritte Möglichkeit, die die Regierung von Ministerpräsident Németh schließlich auch ergriff, war, die Ostdeutschen ausreisen zu lassen. Diese Möglichkeit kam allerdings nur deshalb in Frage, weil die Hegemoniemacht Sowjetunion zuvor ihr Desinteresse signalisiert hatte. Außenminister Horn konnte so am 10. September 1989 verkünden, dass die DDR-Bürger am 11. September um 0 Uhr das Gebiet Ungarns verlassen dürften. Die Tatsache, dass Horn die Entscheidung der Regierung bekanntgeben durfte und bereits zuvor als „Zaundurchschneider“ aufgetreten war, machte es ihm später möglich, sich international zum „historischen Grenzöffner“ zu stilisieren. Die anderen, oft wichtigeren Entscheidungsträger in der Regierung von Ministerpräsident Németh, insbesondere der Regierungschef, erfuhren so lange Zeit keine angemessene öffentliche Würdigung.