Das Referendum hat in erster Linie bestätigt, was ohnehin
offensichtlich ist: Staatsbürger geben nicht gern Geld aus, wenn sie es nicht
müssen. Vom Standpunkt des Individuums ist dies eine ganz rationale Verhaltensweise,
die eigentlich nicht erst mit riesigem finanziellen und politischen Aufwand
hätte hinterfragt werden müssen.
Zu ähnlichen Resultaten wie am vergangenen Sonntag wäre
der oppositionelle Fidesz sicher auch gekommen, wenn er über die Streichung der
Park- oder Mautgebühren hätte abstimmen lassen. Und bestimmt hätte auch kaum
ein ungarischer Wähler etwas gegen moderatere Treibstoffpreise. Er hätte
wahrscheinlich auch dann nichts gegen eine Senkung oder Streichung von ihn
betreffenden Gebühren oder Preisen einzuwenden gehabt, wenn die Initiative dazu
nicht aus dem politischen Lager kommen würde, mit dem er sympathisiert. Ja,
selbst wenn er mit gar keinem Lager sympathisiert, wäre er trotzdem stets für
Geldgeschenke offen. Wenn es um den Inhalt des eigenen Portemonnaies geht,
denkt der Bürger nun einmal erst an sich und erst dann über mögliche
Parteipräferenzen nach.
Insofern wirkt der Versuch der Fidesz-Politiker jetzt
fraglich, die Ja-Stimmen ihrem und die Nein-Stimmen dem Regierungslager
zuzuschreiben. Immerhin muss angenommen werden, dass es im jetzigen Ja-Lager
auch viele Wähler gibt, die zwar keine Lust haben, freiwillig für etwas zu
zahlen – Wer hat das schon? – bei Parlamentswahlen ihre Stimme aber dennoch
durchaus der MSZP oder dem SZDSZ geben würden. Bei Licht betrachtet ging es bei
der Abstimmung eher um eine menschliche Verhaltensweise als um eine bewusste
Entscheidung für eine politische Richtung. Fraglich ist weiterhin der Versuch
der vermeintlichen Wahlsieger zu werten, das Ergebnis in einen Sieg der
Demokratie umzudeuten. Realitätsnäher könnte da schon die Gegenseite das
Resultat als Sieg des Populismus hinstellen.
Auf jeden Fall schien die Regierung wenig Illusionen
hinsichtlich der Zahlungsmoral ihrer Bürger gehabt zu haben. Bereits wenige Minuten
nach Schließung der Wahllokale war auf der Website des Ministerpräsidialamtes
die Gesetzesänderung hinsichtlich der Streichung der drei Gebühren fertig
formuliert nachzulesen. Keinen Zweifel ließen die Regierungsvertreter am
Wahlabend schließlich auch daran, dass die wegfallenden Gelder, den
Krankenhäusern, Arztpraxen und Lehreinrichtungen nicht aus Haushaltsmitteln
ersetzt würden. Wie auch? Selbst bei entsprechendem politischen Willen wäre das
nur schwer möglich. Schließlich wurde das Referendum von Anfang an unter der
Prämisse gestattet, dass das Staatsbudget vom Wählervotum nicht berührt werden
dürfe. Die weggestimmten Gebühren werden also in die Kassen der betroffenen
Institutionen Lücken reißen. Mit Blick auf die näher rückenden Wahlen ist zu vermuten,
dass die Vertreter der Regierungsparteien keine Gelegenheit auslassen werden,
jetzt jedem klar zu machen, wem die Schuld für ausbleibende Reparaturen oder
Innovationen in den betroffenen Einrichtungen zuzuschreiben ist. Das wäre
genauso nachvollziehbar, wie das zu erwartende Desinteresse der Regierung, sich
über Kompensationsmöglichkeiten den Kopf zu zerbrechen. Angesichts des
wahltaktischen Erstschlags der Opposition müssten die Regierungsparteien nicht
einmal ein schlechtes Gewissen dabei haben. Am Ende leiden aber alle Bürger.
Auf der anderen Seite ließen die Vertreter der
Regierungsseite gleich am Wahlabend wiederum keinen Zweifel daran, dass ihre
geplanten Reformen unabhängig vom Fortfall der zusätzlichen Einnahmen weiter
verfolgt würden. So wird auch der dringend erforderliche Umbau des maroden
ungarischen Gesundheitswesens durch den Ausgang des Referendums keinen größeren
Schaden erleiden. Insofern sollte das Ergebnis ebenso wenig wie in politischer,
so auch nicht in Hinsicht auf die praktischen Auswirkungen auf die
Regierungspolitik überbewertet werden. Neben vielen Trugschlüssen lassen die
Ergebnisse aber dennoch auch einige echte Schlüsse zu. So machen sie deutlich,
dass sich die meisten Ungarn fast zwei Jahrzehnte nach der Wende, lieber vom Staat
schlecht aber scheinbar umsonst betten lassen, als für sich und ihre
Angehörigen eigenverantwortlich das bestmögliche aus dem vorhandenen System
herauszuholen.
Noch immer ist die verführerische
Alles-ist-umsonst-Mentalität, die nicht zuletzt dem vorangegangenen System das
Genick gebrochen hat, äußerst vital in den Köpfen der meisten Ungarn vorhanden.
Die Verantwortung für die eigene Bildung und Heilung wird ängstlich weiterhin
dem Staat zugeschoben. Möge der Service auch noch so schlecht sein und mögen im
Gesundheitswesen auch weiterhin Schmiergelder, lange Schlangen, marode
Krankenhäuser, schlechtes Essen und wenig motiviertes Personal zum Alltag
gehören. All das scheint die meisten weniger zu kümmern, als für die eigene
Gesundheit geringfügig in die Tasche greifen zu müssen. Mutige Politiker, die
Ungarns – in vielen Bereichen noch immer postsozialistische – Strukturen in
Richtung Marktwirtschaft umbauen wollen, müssen in Zukunft neben der
gesamtgesellschaftlichen Vernunft auch die gegensätzlichen sozialromantischen
Instinkte des Großteils ihrer Bürger wieder stärker mit ins Kalkül ziehen.
Zumindest, wenn sie nicht wollen, dass ihnen die jeweilige Oppositionspartei
populistisch in die Parade fährt.