Stellen wir uns vor, ein EU-Bürokrat könnte eine Reise ins Wien der Jahrhundertwende unternehmen. Was er dort zu sehen bekäme, hätte fürwahr frappante Ähnlichkeiten zur heutigen EU. Auch die österreichisch-ungarische Monarchie war ein riesiges Experimentierfeld in Sachen supranationaler Staatengemeinschaft – ein Flickenteppich von Königreichen und Nationalitäten, die unter dem Banner eines gemeinsamen geopolitischen Ziels vereint waren.
In seinem Zenit beherbergte das österreichisch-ungarische Reich 51 Mio. Einwohner, 14 Sprachen, elf Nationalitäten und fünf Religionen. Was die ethnische Zusammensetzung der Einwohnerschaft angeht, waren rund die Hälfte Slawen, ein Viertel Österreicher und ein Viertel Ungarn. Neben diesen drei großen Volksgruppen gab es überdies kompakte italienische und rumänische Minderheiten. Die Herrschaft über solch ein ethnisches Konglomerat gestaltete sich in Form einer pseudo-demokratischen Monarchie. Oberste staatliche Instanz war der österreichische Kaiser und ungarische König in Personalunion. Indes gab es in beiden Hälften der Doppelmonarchie, also sowohl in Österreich als auch in Ungarn – Parlamente.
Trotz dieses byzantinischen Charakters war das Reich nicht nur ein Stabilitätsfaktor für seine Einwohner, sondern auch für Europa als Ganzes. In Hinblick auf die ethnische Vielfalt des Reiches fungierte die Monarchie einerseits als Schiedsrichter, andererseits als Maßregelungsinstanz. Sie befriedete die zum Teil scharfen nationalen Gegensätze und legte ihre schützende Hand über die kleinen Nationen, die von angrenzenden expansiven Mächten bedroht waren. Im Herzen des europäischen Kontinents konnte damit ein geopolitisches Vakuum gefüllt werden, wodurch den aggressiven Mächten Deutschland und Russland Einhalt geboten werden konnte.
Solange es diesen Anforderungen Genüge tat, wurde Österreich gleichsam als ,,europäische Notwendigkeit“ betrachtet – als Ordnungshüter und Vermittler zwischen den Nationen und Nationalitäten, für den es schlichtweg keinen Ersatz gab. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah sich das Reich allerdings mit zwei Problemen konfrontiert – einem inneren und einem äußeren –, die Zweifel hinsichtlich seiner Fähigkeit aufkommen ließen, seine ,,Kernmission“ – nämlich als Stabilisator aufzutreten – zu erfüllen.
Erstens: Das Habsburgerreich zeigte sich immer weniger dazu imstande, die Gegensätze zwischen den unterschiedlichen Nationalitäten auszugleichen und ihre vielfältigen Interessen zu repräsentieren. Kern des Problems war im Zuge des politischen Ausgleichs zwischen Österreich und Ungarn 1867 die Ausklammerung und Missachtung der zahlenmäßig größten, zugleich aber auch ärmsten ethnischen Gruppe der Monarchie, des Slawentums. Nach dem Ausgleich war die Monarchie faktisch eine Zwei-Staaten-Union, die für fast alle Nationalitäten inakzeptabel war. In den Augen der Slawen war der Ausgleich nichts anderes als ein Vehikel für den Ausbau der österreichischen und ungarischen Dominanz, die es um jeden Preis zu brechen galt.
Zweitens: Angesichts der nationalistischen Spannungen in seinem Inneren, wurde es für die Monarchie immer schwieriger, eine einheitliche Außenpolitik zu verfolgen. Nach 1906 mit einem zunehmend offensiven Russland konfrontiert, rückte die Habsburgermonarchie außenpolitisch immer näher an Deutschland heran. Dies kam in den Augen vieler europäischer Mächte einem Verrat an der Rolle des geopolitischen Vermittlers und Stabilisators gleich. Die geballte Erosionskraft der inneren und äußeren Probleme mündete schließlich in den Ersten Weltkrieg und den Zerfall der Habsburgermonarchie.
Brüssel an der Donau?
So nahm die erste Europäische Union ihr Ende. Ihre Geschichte könnte aber ohne weiteres als Lehrbeispiel für das heutige Integrationsprojekt in Europa herhalten. Denn die EU ist heute mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert wie die österreichisch-ungarische Monarchie vor rund 100 Jahren.
Erstens: Die EU-27 sieht sich heute einer wachsenden inneren Krise gegenüber. Wenn sie mit einer Stimme sprechen will, muss sie sich einer tiefgreifenden Reform unterziehen. Ein Hindernis sind ihr hierbei – dies war auch schon für die Habsburgermonarchie kennzeichnend – die Spannungen zwischen den ärmeren Ländern (wie Polen), die eine Dominanz der großen Staaten befürchten, und den reichen Mitgliedern (wie Deutschland), die die Furcht hegen, in einer erweiterten Union ihren Status zu verlieren.
Zweitens: Ebenso wie seinerzeit Österreich-Ungarn muss sich auch die EU an ein sich rasch veränderndes weltpolitisches Umfeld anpassen. Auf der einen Seite steht Russland, das seinen verlorenen Einfluss zurückzugewinnen trachtet. Auf der anderen Seite stehen die USA, die bestrebt sind, ihrem Supermachtstatus gerecht zu werden. Vor diesem Hintergrund ist es von elementarer Bedeutung, dass die 27 Mitgliedsländer der EU an einem Strang ziehen und nach außen das Bild einer Einheit abgeben. Nur so können sie nämlich auf der Weltbühne als Vermittler zwischen Ost und West auftreten. Angesichts des Mangels an innerer Kohäsion bleibt dies vorläufig aber nur eine Wunschvorstellung.
Drei Lehren können aus den Erfahrungen der Habsburgermonarchie für die heutige EU gezogen werden.
- Unionen mit zwei Geschwindigkeiten funktionieren nicht. Die vielleicht wichtigste Lehre aus der Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie besteht darin, dass Nationen nicht degradiert werden dürfen. Solange sich die Slawen als Bürger ,,zweiter Klasse“ sahen, wurde das Habsburgerreich von inneren Spannungen gebeutelt, unfähig, nach außen hin einheitlich aufzutreten. Das Höchste, was sich die Monarchie unter solchen Umständen erhoffen konnte, war ein ,,fortwursteln“ – nämlich von einer Krise zur nächsten.
Die EU dürfte nun in eine ähnliche Phase getreten sein. Eine Achse Deutschland-Frankreich kann auf lange Sicht ebenso wenig die Geschicke einer Union von 27 Mitgliedern lenken wie eine Achse Österreich-Ungarn zu Zeiten der Habsburgermonarchie nicht imstande war, elf Nationalitäten zu führen. Ebenso wie Österreich-Ungarn den Slawen mehr Gleichberechtigung und Mitspracherecht geben hätte müssen, müsste die EU ihren neuen Mitgliedern in Ostmitteleuropa mehr Gewicht verleihen.
- Um zu überleben, muss eine multinationale Union imstande sein, ihren Gründungsmythos immer wieder neu zu beleben. Die Architekten der österreichisch-ungarischen Monarchie hatten etwas verstanden, was auch später für Jean Monnet einleuchtend war: Ein funktionsfähiges supranationales Gebilde sollte auf einem Kompromiss zwischen den beiden wichtigsten Staaten des Projektes aufruhen. Sowohl 1867 (Ausgleich) als auch 1951 (Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)) wurden Abkommen geschlossen, die zwischen einem starken Industriestaat und einem schwächeren Agrarstaat zustande kamen; sowohl 1867 als auch 1951 waren Staaten beteiligt, die ehemals Rivalen und Feinde gewesen waren; sowohl 1867 als auch 1951 hatten sich die Staaten darauf geeinigt, ihre Souveränitäten zu teilen. In Anbetracht der EU besteht die Herausforderung darin, den Schwung und Pathos des Gründungspaktes neu zu beleben und auf die neuen Mitglieder der Union zu übertragen. Ebenso wie die Habsburgermonarchie eines weiteren Ausgleichs bedurft hätte, nämlich zwischen Österreichern und Slawen, ist in der EU heute eine Wiederbelebung des Geistes von 1951 vonnöten, sprich ein Ausgleich zwischen den beiden größten westlichen und östlichen EU-Mitgliedern, Deutschland und Polen.
- Vorbeugung gegen eine allzu große Abhängigkeit von äußeren Mächten. Ähnlich wie die Habsburgermonarchie in Ermangelung eigener Kapazitäten (militärische Verteidigung) eine strategische Allianz mit Deutschland geschlossen hatte, stillte die EU ihr strategisches Bedürfnis bei der Energiesicherheit durch steigende Gas-Importe aus Russland. Wie uns aber die Geschichte der Habsburgermonarchie vor Augen führt, kann kurzfristige Sicherheit in einem asymmetrischen Verhältnis auf lange Sicht einen hohen Preis haben. Für die EU birgt die Abhängigkeit von strategisch wichtigem russischem Gas etliche Gefahren in sich.
So kann es zu einem Auseinanderklaffen der Interessen zwischen jenen Mitgliedern kommen, die eine enge Partnerschaft mit Russland pflegen und viele gemeinsame Interessen mit Moskau haben, wie etwa Deutschland, und Ländern wie Polen, die sich vom unberechenbaren östlichen Nachbarn nach wie vor militärisch bedroht fühlen. Ähnlich wie die Hinwendung Österreich-Ungarns zu Deutschland die Slawen in die schützenden Arme Russlands trieb, wenden sich angesichts der Affinitäten zwischen Berlin und Moskau die neuen Mitglieder heute Washington zu und strapazieren damit unweigerlich die Einheit der EU.
Dauerhafter Ausgleich zwischen Arm und Reich
Es liegt in der Natur historischer Vergleiche, dass sie in vielen Fällen hinken. Mit der Gegenüberstellung von Habsburgermonarchie und EU verhält es sich freilich nicht anders: Im Gegensatz zum Habsburger Reich muss sich die EU beispielsweise nicht mit irredentistischen Nationalismen und Kriegen der Großmächte herumschlagen. Und dennoch: Suchen wir in der Vergangenheit nach ähnlichen supranationalen Modellen, wie jenes der EU so ist die Habsburgermonarchie am ehesten dazu geeignet, als historischer Vergleich herzuhalten. Warum die österreichisch-ungarische Monarchie letztlich scheiterte, ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass sie allzu sehr der politischen Routine anheimgefallen war, und dies zu einer Zeit, als eine umfassende Reform und strategische Erneuerung dringend notwendig gewesen wären. Infolge der Erweiterung ist die EU an einen ähnlichen konstitutionellen und geopolitischen Scheideweg gelangt. Ziel der EU muss es nun sein, einen dauerhaften Ausgleich zwischen seinen armen und reichen EU-Mitgliedern zu erreichen – einen Ausgleich, der nicht bloß auf der gerechten Verteilung der Stimmrechte im Europäischen Rat basiert, sondern auch eine fundamentale Annäherung zwischen Deutschland und Polen beinhaltet. Derweil muss sie aber auch ein energiereiches und geopolitisch erstarktes Russland auf Abstand halten.
Wess Mitchell ist Forschungsdirektor am Center for European Policy Analysis (CEPA) in Washington, einem parteiunabhängigen öffentlichen Institut für politische Forschung, das sich mit Studien über die ostmitteleuropäische Region befasst.