Auf der Suche nach dem Bürger
Es gab Zeiten, da hatte es den Anschein, als besäße in Ungarn allein der Fidesz das Nutzungsrecht für den Begriff "Bürger" (polgár). Durch die inflationäre Verwendung dieses Wortes gelang es schließlich der Partei, erfolgreich den Eindruck zu erwecken, als sei ,,Bürger“ eine Art Synonym für Fidesz-Anhänger.
Damit ist es inzwischen vorbei. Eine spärliche Erinnerung an die einstige verbale Leidenschaft für den ,,Bürger“ bietet heute allenfalls noch der offizielle Zusatz zum Parteinamen Fidesz: Ungarischer Bürgerlicher Verband. Doch selbst dieser Schwanz wird im täglichen Gebrauch immer häufiger abgeschnitten. Während eine Zeitlang kein Fidesz-Oberer den ursprünglichen Namen seiner Partei über die Lippen brachte, ohne jedes Mal penetrant auch ihren Beinamen hinterherzuhecheln, scheint inzwischen selbst Fidesz-Vorsitzender Viktor Orbán der Kürze den Vorzug zu geben. In öffentlichen Gesprächen nennt er seine Partei wieder so wie jeder normale Ungar: einfach nur Fidesz und Schluss.
Grund könnte Orbáns wiederentdeckte Begeisterung für sozialromantisches und linkes Vokabular sein. Dieses dominiert seine Sprache inzwischen dermaßen, dass darin sein einstiges Lieblingswort reichlich deplatziert wirken würde. In seiner jüngsten Rede zur Lage der Nation kam Orbán das Wort ,,Bürger“ gar nur fünf Mal über die Lippen. Davon einmal bei der vollständigen Nennung des Parteinamens und jeweils zwei Mal als Wahlbürger (ungarische Langform von Wähler) und Staatsbürger.
Sein großer Kontrahent, Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány zeigte einige Tage später bei seiner Rede zu Lage der Nation, dass es auch anders geht. Obwohl sein Beitrag etwa ein Drittel kürzer war, strotzte er nur so vor lauter ,,Bürgern“. Der Premier brachte es fertig, diesen Begriff sage und schreibe 32 Mal zu verwenden.
Zwanzig Mal sprach er allein von ,polgárosodás“, deutsch in etwa Verbürgerlichung oder Bürgerwerdung. Es ist offensichtlich: Jetzt will auch der Sozialist Gyurcsány einmal sein Glück mit dem wohlklingenden Begriff versuchen. Warum auch nicht? Schließlich hat der Fidesz erfolgreich vorgemacht, wie man aus der Proklamierung einer bürgerlichen Vision politisches Kapital schlägt. Und wenn Gyurcsány dabei seinem Erzkonkurrenten mal eben ein strategisches Attribut entwendet, dann umso besser! Doch muss sich der Premier nicht einmal dem Vorwurf stellen, einen geistigen Diebstahl begangen zu haben. Spätestens seit Orbáns jüngster Rede konnte er mit der reinen Überzeugung nach dem ,,Bürger“ greifen, dass er damit dem Fidesz eigentlich nichts mehr wegnimmt, sich also quasi nur nach einem herrenlosen Gut bückt.
Um welchen Bürger geht es?
Aber selbst wenn der Fidesz seinen ,,Bürger“ – zugunsten der wahltaktisch attraktiveren Unterschicht – noch nicht vollends beerdigt hat, ist es nicht sicher, dass Gyurcsány und Orbán an das gleiche denken, wenn sie ,,Bürger“ sagen. Immerhin unterließ es auch Gyurcsány, uns eine exakte Beschreibung seines ,,Bürgers“ mitzuliefern. Aus dem Kontext seiner Rede geht lediglich hervor, dass es sich beim ,,Bürger“ und der ,,Verbürgerlichung“ um etwas Positives und Wünschenswertes für Ungarn handeln müsse. Gyurcsány selber muss jedoch schon eine recht konkrete Vision vom ,,Bürger“ vor Augen haben. Auf jeden Fall gab er vor zu wissen, dass ,,Arbeit, Wissen und Eigentum“ seinem Heranwachsen zuträglich seien. Und wo er schon einmal die Bedeutung dieser drei Säulen für seine Vision preisgegeben hatte, schlug er als verantwortungsvoller Architekt seines Landes auch gleich ein paar Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Statik vor.
So will er etwa im kommenden Jahr durch das Zurückschrauben der horrenden Lohnnebenkosten das Angebot an Arbeit erweitern. Etwa 200 Mrd. Ft seien dafür vorgesehen. Die Bildung möchte er mit zusätzlichen 50 Mrd. Ft unterstützen. Beide Maßnahmen klingen vernünftig und werden der ,,Verbürgerlichung“ sicher nicht schaden. Sein Plan zur Stärkung der dritten Säule wirft allerdings einige Bedenken auf: Über ein spezielles Programm möchte Gyurcsány seine Landsleute verstärkt zu Mikroaktionären an einigen noch in Staatshand verbliebenen Großunternehmen machen. Aus deren Aktien soll den glücklichen Besitzern die ,,Freude und die Verantwortung“ von Eigentümern erwachsen. Das soll sie wiederum zu besseren Bürgern des Landes machen.
Was motivierte Gyurcsánys Schritt?
Na, wenn hier mal nicht ein Wunschtraum der Vater des Gedankens war! Es stellt sich nämlich sofort die Frage, warum ungarische Bürger in spe jetzt mit einem Mal dieser Kapitalanlageform unter vielen anderen eine höhere ideelle Bedeutung beimessen sollen und warum jetzt gerade diese Form besonders gefördert werden soll. Auch ist fraglich, ob winzige Anteile an überwiegend staatlichen Mammutunternehmen – ohne ein reales Mitspracherecht, aber durchaus mit realem Risiko – bei den Jungaktionären überhaupt heiße Eigentümergefühle aufkommen lassen. Solche Gefühle können sich eigentlich nur dort voll entfalten, wo die Eigentümer auch die Macht haben, über ihr Eigentum möglichst frei zu verfügen. Ganz ausgeprägt gibt es ein Eigentümerbewusstsein daher bei den Anteilshabern an kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU).
Im Sinne der dritten Säule hätte Gyurcsány also durchaus auch etwas mehr für die gebeutelten KMU des Landes tun können. Wenn der Teilprivatisierung der inzwischen bekannten vier großen staatlichen Unternehmen tatsächlich nichts mehr im Weg steht, könnte der Staat beispielsweise die für die Verbürgerlichung reservierten 10% bestmöglich auf dem freien Markt verkaufen und von den Einnahmen die Lage der ungarischen Unternehmen verbessern. Nicht direkt über Subventionen an einige wenige privilegierte Unternehmen, sondern indirekt für alle, und zwar über eine Senkung der Lasten durch Steuern und Bürokratie. Die Zustimmung breiter Kreise der Bevölkerung wäre Gyurcsány sicher. Ebenso sicher hätte auch seine neu entdeckte Verbürgerlichung davon profitiert. Es ist wirklich nicht ersichtlich, warum Gyurcsány – wenn er es denn ehrlich meint – nicht diesen Weg gegangen ist, sondern sich partout darauf versteift hat, die Verbürgerlichung Ungarns über die künstliche Schaffung von Mikroaktionären anzukurbeln.
Was steckt wirklich dahinter?
Was hat ihn also dazu bewogen? Fehlte ihm die Zeit oder die Geduld für nachhaltigere Maßnahmen? Braucht er schnelle Ergebnisse? Will er mit dieser Maßnahme vielleicht nur die gesellschaftliche Akzeptanz für die umstrittene Fortsetzung der Privatisierung erhöhen? Oder will er gar durch sein Herumwedeln mit Milliarden an ergatterbarem Volksvermögen vielleicht einfach nur die im Vergleich dazu winzigen Gebühren in den Schatten stellen, die Gegenstand des baldigen Referendums sind? Ja, besonders das Timing lässt den hässlichen Verdacht aufkommen, dass er hier weniger um die ,,Bürger“, sondern vielmehr um den Bürger Gyurcsány geht, der das letzte Tafelsilber seines Landes kurzfristig in Popularitätspunkte für sich und seine Partei ummünzen will.
Dem Begriff ,,Bürger“ bleibt derweil nur zu wünschen übrig, dass er nicht bloß wieder im Interesse einer Partei vergewaltigt wird und dass es sich diesmal um mehr als nur einen Marketing-Schachzug handelt. Schließlich steht ,,Bürger“ im weitläufigen Sinn für Werte wie Vernunft, Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung, Toleranz, Weltoffenheit, Staatsverbundenheit und vieles Positive mehr, wovon die gegenwärtige ungarische Gesellschaft durchaus noch einiges vertragen könnte.