Laut Ministerpräsident
Ferenc Gyurcsány ist nach der Verabschiedung des Krankenversicherungs – gesetzes
am 11. Februar die Regierungsarbeit in eine neue Phase getreten. Nach der
Budgetkonsolidierung und der Umstrukturierung der großen Umverteilungssysteme
könne eine ,,neue Politik“ ihren Anfang nehmen. Trotz dieser Äußerung des
Premiers gilt die Gesundheitsreform aber noch lange nicht als abgeschlossen.
Angesichts des Referendums am 9. März und seiner
unabsehbaren politischen Konsequenzen sowie den vielen Unwägbarkeiten im
Zusammenhang mit der Umgestaltung der Krankenversicherung ist der Ausgang der
Reform noch offen.
Die Reform des Gesundheitswesens ist in der Ära der
zweiten Regierung Gyurcsány (seit 2006) zum symbolischen Thema erhoben worden.
Die öffentlichen Debatten über die Reformen fokussierten sich nicht zuletzt auf
dieses Gebiet, sei es zwischen der Regierung und der Opposition, zwischen den
Regierungsparteien, oder innerhalb der Ungarischen Sozialistischen Partei
(MSZP). Die oppositionellen Jungdemokraten (Fidesz) richteten fast ihre gesamte
Referendumskampagne auf die Kritik der Gesundheitsreform – insbesondere die
Praxisgebühr – aus. Seit dem vergangenen Herbst gewann die Gesundheitsreform
aber auch im Regierungslager an Bedeutung. Während die liberalen Freien
Demokraten (SZDSZ) mehrfach damit drohten, aus der Regierungskoalition auszutreten,
sollte die Umgestaltung der Krankenversicherung nicht zu Ende gebracht werden,
gab es in der MSZP Stimmen, die sich für eine Verlangsamung des Reformtempos
aussprachen.
Annäherung der Regierungsparteien
Die Regierungsparteien ließen in der Öffentlichkeit den
Eindruck entstehen, dass die parlamentarischen Abstimmungen über das
Krankenversicherungsgesetz am 17. Dezember 2007 sowie am 11. Februar 2008
einerseits Schicksalsabstimmungen über die Koalition, andererseits
Vertrauensvoten über den Regierungschef waren. Mit Blick auf das bevorstehende
Referendum am 9. März wurden dagegen andere Töne angeschlagen. In diesem
Zusammenhang hieß es mehrfach, dass die Infragestellung einzelner Elemente der
Gesundheitsreform keinerlei Auswirkungen auf die Stabilität der Regierung
hätten.
Die mit der Ausarbeitung des Krankenversicherungsgesetzes
einher gehenden Konflikte zwischen den Koalitionsparteien haben auf paradoxe
Weise zu einem Einigungszwang zwischen MSZP und SZDSZ geführt. Die Koalition
mag noch so instabil sein; in der jetzigen Situation haben die
Regierungsparteien schlechthin keine andere Wahl, als in einem Boot zu bleiben.
Denn es dürfte weder im Interesse der MSZP noch des SZDSZ liegen, die
Parteiführung zu wechseln, geschweige denn vorgezogene Wahlen vom Zaun zu
brechen. Zur Einheit wurden die Regierungsparteien aber auch durch den stetig
steigenden Druck von Seiten der Gewerkschaften und des Fidesz gezwungen. Wir
haben schon oft beobachten können, dass MSZP und SZDSZ ihre Reihen auf äußeren
Druck hin schlossen, dies geschah auch jetzt. Obwohl sich keine der beiden
Regierungsparteien in Bausch und Bogen mit dem neuen Krankenversicherungsmodell
identifizieren kann, ist die entstandene Zwitterlösung dennoch dazu geeignet,
die koalitionären Debatten über das Gesundheitswesen als abgeschlossen zu
betrachten.
Weniger Kompetenzen für private Versicherungen
Das neue Krankenversicherungsmodell lässt sich vorerst
jedoch nur in seinen Konturen wahrnehmen. Mithin ist es schwierig, seine
Auswirkungen abzusehen. Entscheidend ist nach wie vor die Frage, ob die
Privatversicherungen bereit sein werden, an einem System teilzuhaben, das nur
mit Einschränkungen als Mehrversicherungsmodell bezeichnet werden kann. Und
wenn ja, unter welchen Garantieleistungen des Staates sie dies tun werden.
Eines ist sicher: Durch die Modifizierungen, die von der MSZP durchgesetzt
wurden, sind die Risiken für die privaten Versicherungen gestiegen. Einerseits
werden die Kosten für einen Markteinritt höher ausfallen, andererseits werden
die Privatversicherungen weniger Kompetenzen haben als im Koalitionsabkommen
ursprünglich geplant. Während das Tagesgeschäft von den kommerziellen
Versicherungen abgewickelt wird – diese werden die Generaldirektoren stellen –
werden die strategischen Weichen vom Staat gestellt.
Fidesz als Risikofaktor
Das Risiko für die Privatversicherungen wird auch durch
die starr ablehnende Haltung des Fidesz weiter erhöht. Oppositionschef Viktor
Orbán hat mehrfach durchblicken lassen, dass der Fidesz bei einem
Regierungswechsel umgehend alles rückgängig machen und die Kosten von den
privaten Versicherungen bezahlen lassen würde. Details, wie der Fidesz dies
anzustellen gedenke, blieb Orbán allerdings schuldig.
Große Unsicherheiten
Obwohl sich die Regierungsparteien auf einen Kompromiss
einigen konnten, der für beide Seiten akzeptabel ist, hat die sich hinziehende
Koalitionsdebatte dem Regierungslager geschadet. Die Unsicherheiten in Bezug
auf das Gesundheitssystem sind nach wie vor groß. Vor diesem Grund stellt sich
unweigerlich die Frage, ob das neue Krankenversicherungssystem überhaupt
funktionsfähig sein wird. Die Wähler jedenfalls werden bis zur Etablierung des
neuen Systems im Frühjahr 2009 nichts anderes zu hören bekommen als das Gezänk
der Parteien über die Reform.