Mit dem jüngsten Eisenbahnerstreik ist die ungarische
Innenpolitik wieder um eine absurde Episode reicher. Dankenswerterweise lässt
Oberstreikhals Gaskó jetzt für einige Tage die Waffen ruhen und gibt der
verwunderten Öffentlichkeit etwas Zeit zur Rekapitulierung dieser merkwürdiger
Arbeitsniederlegung.
Angefangen hatte alles ganz harmlos: Wie andere gut
organisierte Arbeitnehmer, die in einer Branche mit Erpressungspotenzial
arbeiten, kamen auch die Eisenbahner zum Jahreswechsel auf die Idee, mal wieder
etwas für ihre Lohntüte zu tun. Und wie in jedem Jahr konnten sich die fünf (!)
verschiedenen Eisenbahnergewerkschaften nach den üblichen, ritualisierten
Pokerrunden mit Bluffs und Drohgebärden auf einen Kompromiss einigen. Dieser
wurde schließlich von allen beteiligten Gewerkschaften abgesegnet.
Normalerweise wäre die Sache damit beigelegt gewesen.
Nicht so bei den ungarischen Eisenbahnern. Kaum war die
Tinte unter dem Vertrag trocken, fiel dem Chef der ,,Freien Gewerkschaft der
Eisenbahner“, István Gaskó, plötzlich auf, dass beim Verkauf von MÁV Cargo an
die Rail Cargo Austria im vergangenen Jahr Geld geflossen ist. Sogar nicht
wenig. Immerhin verlockende 102,5 Mrd. Forint. Und schon war die Idee geboren,
nach dem erfolgreichen Lohnabschluss in eine weitere Pokerrunde mit dem Staat
zu gehen. Schnell war eine Begründung gefunden – eine angebliche Zusage des
damaligen Wirtschaftsministers Kóka – und auch eine populäre Forderung:
Sonderprämie für alle Bahnangestellten.
Dieser Betrag hört sich zunächst nach nicht viel an, ist
aber mit 37.000 multipliziert – 9,25 Mrd. Ft – doch ein nettes Sümmchen. Und
wenn man dann noch weiss, dass die Ungarische Staatbahn nur in der Lage ist,
ein Drittel ihrer Kosten selbst zu erwirtschaften und der Steuerzahler das
marode Staatsunternehmen allein in diesem Jahr mit etwa 125 Mrd. Ft
bezuschussen muss, dann sollte sich ein Griff nach den Privatisierungseinnahmen
grundsätzlich verbieten. Zumal diese Einnahmen bereits restlos für die
Rückzahlung von Krediten und zur Linderung des gewaltigen Investitionsstaus
verplant worden sind.
Was motivierte
den unverfrorenen Friedensbruch?
An Gaskó perlen solche wirtschaftlichen Überlegungen
freilich ab. Er folgt anderen Vernunftgründen. Worin diese bestehen, darüber
kann nur spekuliert werden. Vielleicht leidet er – wie viele andere
Gewerkschaftsbosse mit ihm – an einer Profilneurose? Vielleicht will er aber
auch nur mal wieder etwas Gutes für die Kontributeure seines Gehalts tun? Laut
Kóka immerhin ,,über eine Million Ft“. Der plötzliche Friedensbruch geschah
aber so unverfroren, dass man es bei der Suche nach den Ursachen diesmal nicht
so einfach bei den üblichen Gründen für gewerkschaftlichen Unfrieden bewenden
lassen sollte.
Könnte das dreiste Auftreten des Gewerkschaftsbosses
nicht vielleicht auch etwas mit den aktuellen Rahmenbedingungen zu tun haben?
Etwa mit der derzeit gängigen Respektlosigkeit gegenüber der ungarischen
Regierung? Oder kann nicht auch das vom Fidesz angestrengte Referendum
ausgestrahlt haben? Gut möglich, dass sich die Eisenbahner gesagt haben: ,,Wenn
man einfach so Gebühren wegstimmen kann, dann wollen wir mal versuchen, uns
einen Teil der Privatisierungseinnahmen zu schnappen.“
Was, wenn der Präzenzfall
woanders Schule macht?
Bei diesem Gedanken überkommt einen das Schaudern. Was
passiert, wenn der Präzedenzfall der Eisenbahner auch woanders Schule macht?
Wird demnächst vielleicht den Fluglotsen einfallen, dass sie bei der
Privatisierung des Budapester Flughafens leer ausgegangen sind? Oder wie wär’s
mit einer Unruhezulage für Polizisten? Oder einer Schengenprämie für Zöllner?
Man mag lieber nicht laut zu Ende denken, welche öffentlichen Bereiche noch
alles ihre Referendumsdividende einfordern könnten. Die Sorge vor einem
Dammbruch und ,,italienischen Verhältnissen“ stellt sich dagegen.
Vielleicht liegt die ungarische Regierung also doch nicht
so ganz falsch, wenn sie hinter dem aktuellen wilden Eisenbahnerstreik den
Fidesz vermutet. Selbst wenn kein direktes Zusammenspiel nachweisbar ist, lässt
sich der Vorwurf nicht vom Tisch wischen, dass der Fidesz zumindest mit zu
einer Atmosphäre beigetragen hat, in der Hasardeure wie Gaskó ihr Glück
versuchen. Ähnlich wie bei den Herbstunruhen 2006 kann und muss auch beim
jetzigen Eisenbahnerstreik die Frage nach den geistigen Urhebern gestellt
werden.
Sie sollte allerdings keinesfalls einseitig beantwortet
werden. Immerhin hat das Respekt gebietende Ansehen einer Regierung nicht nur
etwas mit dem Gebaren der jeweiligen Opposition zu tun. In erster Linie sind es
die eigenen Leistungen, mit denen sich eine Regierung beim regierten Volk
Respekt erwirbt. Auch eine wirkungsvolle Kommunikation und das Einhalten von
möglichst hohen ethischen Standards sind zweckdienlich. Mit all dem hat die
gegenwärtige ungarische Regierung Probleme. Dass sie permanent mit respektlosen
Forderungen und Absichten konfrontiert wird, hat sie daher zum Großteil sich
selber zuzuschreiben.
Es bleibt aber ein Funken Hoffnung. Immerhin reflektiert
das Volk ja nicht nur das Respekt zerstörende Treiben der beiden Großparteien,
sondern sendet auch Impulse, die die beiden Steithähne wieder an ihre große
Verantwortung erinnern könnten. Schon bei den Herbstunruhen 2006 wurde
deutlich, dass die große Mehrheit des ungarischen Volkes von dem blutigen
Schauspiel eher angewidert war. Hoffnung macht auch, dass sich immer mehr
Ungarn deutlich genervt von der Attitüde der beiden Großparteien zeigen, sich
mehr miteinander als mit dem Wohl ihrer Wähler zu beschäftigen. Auch der
Beifall für Gaskós jetzige Partisanenaktion hält sich in Grenzen. Es scheint,
als hätte die Mehrheit der Ungarn keine Lust auf ,,italienische Verhältnisse“.
Großparteien
müssen sich Respekt wieder erarbeiten
So ist es gut möglich, dass sich die Großparteien bald
wieder eines Besseren entsinnen werden. Ihre Gefallsucht und ihr Opportunismus
könnten sie dazu motivieren, ihr Volk nicht bloß mit populistischen
Versatzstücken zu unterhalten, sondern ihm gegenüber wieder eine Haltung an den
Tag zu legen und Leistungen vorzuweisen, die Respekt abverlangen – von
Gewerkschaftsbossen, Regierungskritikern und auch von politischen
Kommentatoren.