Zu Zeiten der
politischen Wende 1989/90 wurde sowohl hierzulande als auch in internationalen
Expertenkreisen die Erwartung genährt, dass Ungarn den Übergang von der Plan-
zur Marktwirtschaft leichter bewältigen werde als die anderen
ostmitteleuropäischen Länder. Diese Ansicht wurde damit begründet, dass in
Ungarn während des real existierenden Sozialismus marktwirtschaftliche Elemente
in die Planwirtschaft integriert worden waren. Ich muss hier festhalten, dass
ich diese Ansicht, die im Westen auch heute noch im Schwange ist, zu keinem
Zeitpunkt geteilt habe: Die reformkommunistischen Versuche erwiesen sich bei
der Effizienzsteigerung der sozialistischen Planwirtschaft als nicht
erfolgreich. Sie hatten massive negative Auswirkungen auf den
Transformationsprozess.
Sofern es
überhaupt einen ungarischen Startvorteil gegeben hat, ist dieser inzwischen
verpufft. Bei der Kapitalakkumulation, der Etablierung marktwirtschaftlicher
Institutionen und der Modernisierung der Wirtschaftsstrukturen konnten Anfang
der 1990er Jahre fürwahr Erfolge verzeichnet werden – unter der Regierung von
József Antall (1990 bis 1993) kristallisierte sich neben den rechtsstaatlichen
Rahmenbedingungen auch der rechtliche und institutionelle Rahmen der
Marktwirtschaft rasch heraus. Der mit dem Transformationsprozess einher gehende
wirtschaftliche Rückfall erreichte 1993 seinen Tiefpunkt. Seither befindet sich
die ungarische Wirtschaft im Aufwärtstrend: 1994 betrug das Wirtschaftswachstum
fast 3%, nach einem kurzzeitigen Rückfall aufgrund der Einführung eines
drastischen Sparpakets, des so genannten Bokros-Pakets im Jahr 1995, lag das
Wachstum jahrelang zwischen 4 bis 5%. 2007 fiel das Wachstum allerdings jäh ab.
Es betrug lediglich 1,6%.
Die gegenwärtige
Verlangsamung des Wirtschaftswachstums fördert nicht nur die Probleme des
Landes zutage, sondern verschärft diese auch. Ungarn weist in der EU zurzeit
nicht nur das höchste Haushaltsdefizit auf, sondern auch eine der höchsten Inflationsraten.
Die Erfüllung der so genannten Maastricht-Kriterien zur Einführung der
Gemeinsamen Währung können bis Ende dieses Dezenniums gewiss nicht mehr erfüllt
werden. Die Analysten gehen davon aus, dass die Euro-Einführung in Ungarn
frühestens im Jahr 2014 erfolgen wird. Das Land wird demnach zu den letzten
gehören, die der Eurozone beitreten werden.
Wirtschaft im Würgegriff der Politik
Die ungarische
Wirtschaft befindet sich in erschreckendem Maße in einem
Abhängigkeitsverhältnis von der Politik. Dies ist insofern überraschend, als
nach dem Untergang des realsozialistischen Regimes die Erwartung vorherrschte,
dass sich die Gesellschaft und darin die Wirtschaft von den Interventionen der
Parteikader befreit habe und die Zeiten von Parteikongress-Entscheidungen und
Fünfjahresplänen ein für allemal zu Ende seien. Schließlich, so die Annahme
damals, werde sich die Ökonomie im Rahmen der Marktwirtschaft (Kapitalismus)
von der Politik emanzipieren.
Weit gefehlt: Im
internationalen Vergleich ist klar zu erkennen, dass die Wähler in den
ostmitteleuropäischen Transformationsländern materialistischer sind als im
Westen. Zum einen sind sie mit großspurigen Versprechungen leichter
beeinflussbar, zum anderen wird die Leistung der Regierungen viel eher anhand der
wirtschaftlichen Entwicklung beurteilt. In Ungarn stehen das wirtschaftliche
und geschäftliche Leben besonders stark im Bann der Politik. Aus einem
Länderbericht der OECD über Ungarn geht hervor, dass das Haushaltsdefizit als
wichtigster Indikator der Wirtschaft eng an die politischen Zyklen gekoppelt
ist: Während das Budgetdefizit in den Wahljahren 1998 und 2002 rund 8% und 8,9%
betrug, belief es sich im Jahr der letzten Parlamentswahlen 2006 auf 9,2%.
Zwar ist auch in
anderen Ländern eine Lockerung der Budgetdisziplin in Wahljahren zu beobachten,
allerdings waren die Haushaltslöcher bei weitem nicht so groß wie in Ungarn.
Überdies fällt auf, dass in Ungarn das Phänomen desolater Staatsfinanzen zu
einem Dauerproblem geworden ist. Während die Mehrzahl der neuen EU-Länder ihre
Budgets erfolgreich konsolidieren konnte, hat sich Ungarn zwischen 1998 und
2006 von den anvisierten finanzpolitischen Zielen entfernt.
Schicksalsjahr 2006
Im Jahr 2006
wurde das Schicksal der ungarischen Wirtschaft für lange Zeit besiegelt:
Angesichts der Parlamentswahlen im Mai 2006 schraubte die erste Regierung von
Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány (2004 bis 2006) das Budgetdefizit in
astronomische Höhen (9,2% des BIP). Die Ursachen für das riesige Defizit waren
einerseits die Minderung der Steuerlast, andererseits die Erhöhung der
budgetären Ausgaben. Damit wollte die Regierung Gyurcsány den Wählern Sand in
die Augen streuen. Ihr Kalkül ging auf: Die linksliberale Koalition erreichte
eine Mehrheit im Parlament.
Kaum hatte die
Allianz aus Sozialisten (MSZP) und Freien Demokraten (SZDSZ) die
Parlamentswahlen 2006 gewonnen, wurden die wahren niederschmetternden Wirtschaftsdaten veröffentlicht. Die
Regierung Gyurcsány zögerte daraufhin nicht lange, um im Rahmen des so
genannten ,,Konvergenzprogramms“ ein rigides Sparpaket zu schnüren. Ohne langes
Federlesen wurden mitten im Fiskaljahr, im Herbst 2006, die gesetzlich
verankerten Steuersenkungen rückgängig gemacht und Steuererhöhungen eingeführt.
Anstatt der im Wahlkampf versprochenen großen Bauprojekte und
Wohlfahrtsausgaben standen außerdem Ausgabenkürzungen, Preiserhöhungen und
Entlassungen auf der Tagesordnung. Und dennoch: Trotz dieser Sofortmaßnahmen
verzeichnete Ungarn 2006 europaweit ein Rekorddefizit.
Bei abrupten
Veränderungen stellt sich immer die Frage, wie die Gesellschaft diese zu
verdauen imstande ist. Vor allem dann, wenn der Wahlauftrag der Wähler ganz
anders gelautet hat. Die Regierung führte beispielsweise eine Praxisgebühr ein,
obwohl Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány im Rahmen der Fernsehdebatte der
Spitzenkandidaten im Wahlkampf dies noch empört zurückgewiesen hatte.
Ihren letzten
Rest an Legitimation verspielte die Regierung, als im September 2006 eine in
drastischem Stil vorgetragene Rede des Ministerpräsidenten (Balatonőszöd) an
die Öffentlichkeit kam: Aus dieser ging eindeutig hervor, dass Gyurcsány in
Hinblick auf die tatsächliche Situation der Wirtschaft die ungarischen Wähler
anderthalb Jahre lang mit Absicht hinters Licht geführt hatte. Statt zu
regieren, betrieb die Regierung Propaganda und ordnete alles dem Wahlsieg
unter.
Hauptproblem ist horrendes Defizit
Nachdem ich für
ein besseres Verständnis der wirtschaftlichen Situation Ungarns die politischen
Umstände ins Gedächtnis gerufen habe, komme ich nun zur Kernaussage meines
Aufsatzes: Grund allen Übels ist das seit 2002 anhaltend hohe Haushaltsdefizit.
Ungarn ist unter den zwölf neuen EU-Mitgliedern das einzige Land, das von der
internationalen Finanzwelt heute negativer beurteilt wird als vor dem
EU-Beitritt des Landes. Die schlechte Beurteilung der wirtschaftlichen
Situation Ungarns ist auch auf den massiven Anstieg der Staatsverschuldung
zurückzuführen. Die Brutto-Staatsverschuldung wird im Zeitraum 2007 bis 2009
zwischen 65 und 70% des BIP liegen. Nur zum Vergleich: 2001 betrug die
Staatsverschuldung 54%.
Diejenigen, die
nach dem EU-Beitritt Ungarns den Verlust der nationalen Souveränität und eine
Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Regierung an die Wand malten, werden
ihre Ansichten nun vielleicht überdenken. Diejenigen wiederum, die in
Anbetracht der EU-Mitgliedschaft eine Zunahme der makrowirtschaftlichen
Disziplin und die Emanzipierung der Wirtschaft von der Politik erwarteten,
werden sich vermutlich auch verwundert die Augen reiben.
Was wir mit Blick
auf die ungarische Wirtschaftspolitik seit 2002 beobachten können, ist die
Verwirklichung kurzsichtiger parteipolitischer Interessen. Populistische
Tendenzen sind international keineswegs selten. Warum haben sich aber gerade in
Ungarn die Staatsausgaben derart von der Realität entfernt? Warum gehen die
ungarischen Politiker – zu Recht – davon aus, dass die Wähler mit
Wahlgeschenken zu gewinnen sind? Dies wirft noch weitere Fragen auf: Was für
ein Gesellschaftsbild haben die Wähler vor Augen, die die Politiker an die
Hebel der Macht hieven? Inwieweit haben sie Einblick in die Mechanismen des
Staates? Inwieweit sehen sie die Zusammenhänge zwischen staatlichen Einnahmen
(Steuern und Sozialversicherungsbeiträge) und staatlichen Ausgaben
(Sozialleistungen, Renten- und Gesundheitsversorgung)? In welchem Ausmaß
akzeptieren sie die Werte der Marktwirtschaft überhaupt?
Kádárismus in den Köpfen
In diesem
Zusammenhang offenbarte eine Umfrage (Medián, 2005) überraschende wie
bedenkliche Ergebnisse: Die Mehrheit der Befragten glaubt weder, dass die Löhne
der Arbeitnehmer vom Markt beeinflusst werden noch, dass sich die
Großunternehmen in Privatbesitz befinden. Ferner sind sich viele Ungarn über
die Grundlagen der Marktwirtschaft noch immer nicht im Klaren. Fünfzehn Jahre
nach der politischen Wende ist solch eine markante staatssozialistische
Einstellung der Menschen verblüffend.
Was die
zunehmende Abkehr von der Marktwirtschaft anbetrifft, müssen aber auch
emotionale und moralische Faktoren in Betracht gezogen werden: So etwa die
Tatsache, dass unter den erfolgreichen ungarischen Unternehmern zahlreiche
ehemalige Mitglieder der Nomenklatura oder deren Nachfahren zu finden sind.
Angesichts dieser Tatsache ist es nicht verwunderlich, dass die ungarische
Marktwirtschaft über eine schwache Legitimation verfügt.
Die Parteien
ihrerseits haben mit ihren politischen Inhalten, Programmen und Äußerungen die
von der realsozialistischen Ära nach wie vor stark geprägten Werte, Ansichten
und Erwartungen der Gesellschaft nur verstärkt. In allen anderen Ländern
Ostmitteleuropas war die Zäsur zwischen dem alten realsozialistischen System
und der Demokratie schärfer. Dies bedeutet, dass die sozialistische
Werteordnung in weiten Teilen der ungarischen Gesellschaft bis auf weiteres
dominant ist.
Abschließend
bleibt zu hoffen, dass vor dem Hintergrund verantwortungsloser politischer
Versprechungen und den daraus resultierenden negativen Konsequenzen für die
Steuerzahler, die ungarischen Wähler endlich zur Räson kommen und der
leichtsinnigen staatlichen Ausgabenpolitik ein für allemal Einhalt gebieten.
Péter Ákos Bod (56) ist Universitätsprofessor für
Ökonomie. Unter der konservativen Regierung von József Antall (1990 bis 1993)
war Bod Industrie- und Handelsminister (1990 bis 1991). Zwischen 1991 bis 1994
war er ungarischer Notenbankchef.