Nach der
Beendigung der Offensive am Gran-Brückenkopf kehrte an den Fronten in Ungarn
ein Zustand relativer Ruhe ein. Der Grund dafür war, dass sich beide Parteien
auf die letzte Schlacht vorbereiteten.
Die Stäbe der
Heeresgruppe Süd, die Armeegruppe Balck und die 6. Panzerarmee unter
SS-Obergruppenführer Sepp Dietrich erarbeiteten mehrere Angriffspläne. Die
Planungen wurden dadurch erschwert, dass sich die Erfolge der Entsatzangriffe
angesichts der offensichtlichen Verstärkung der sowjetischen Reserven westlich
und südlich von Budapest wohl kaum wiederholen ließen. Diese Reserven – eine
Armee und zwei schnelle Korps – würden die Flanke der Angriffsgruppe auf
untragbare Weise bedrohen.
Am 25. Februar
wurden Generalfeldmarschall Freiherr von Weichs (Oberbefehlshaber Südost) und
Generaloberst Wöhler (Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd) nach Berlin zum
persönlichen Gespräch mit Hitler vorgeladen. An jenem Abend entschied Hitler
beim Führervortrag, dass der verbesserte Plan der Armeegruppe Balck
durchgeführt werden solle. Dieser sah vor, zuerst in Süd-Transdanubien mit dem
erwähnten doppelten Zangenangriff anzugreifen und in einem zweiten Schritt die
Kräftegruppierung vor Budapest zu zerschlagen. Das Risiko einer sowjetischen
Gegenoffensive aus dem Raum des Vértes-Gebirges wurde von Hitler nicht in
Betracht gezogen. Bezeichnend für dessen völlig absurden Wunschträume war, dass
er Wöhler allen Ernstes darlegte, beim Erfolg der Offensive seien „bei
Dunaföldvár und Dunapentele große Brückenköpfe über die Donau zu bilden, um
gegebenenfalls ostwärts der Donau auf Budapest zu stoßen.“ Hitlers Wunschdenken
äußerte sich auch in der Bemerkung, bei Gelingen der Offensive sei eine „reiche
Beute an deutschen Waffen“ aus bulgarischer Hand zu erwarten.
Die ungarischen
Mitglieder des Generalstabs wurden überhaupt nicht in die Planungen einbezogen.
Nationsführer Ferenc Szálasi schmiedete seine Pläne über die Aufstellung einer
Hungaristen-Armee in seinem Bunker bei Velem, in der Nähe von K?szeg. Er
protestierte auch bei Hitler, weil dieser nur ungarische Waffen-SS-Divisionen
aufstellen ließ, aber für die Hungaristen-Divisionen keine Waffen übrig hatte.
Entgegen der Abmachungen wurden die Waffen-SS-Divisionen dem Befehlsbereich von
Szálasi entzogen. In den SS-Ausbildungslagern bei Strans und Neuhammer
(Schlesien) befanden sich zwei Waffen-SS-Divisionen in Aufstellung, die vor der
sowjetischen Offensive in jenen Tagen nach Bayern zurücktransportiert wurden.
Andere Züge, mit schwerstem Kriegsgerät beladen, rollten indessen nach Ungarn.
Die besten SS-Divisionen bereiteten sich auf die letzte Schlacht vor. Alles,
was das Reich noch aufzubieten hatte – blutjunge Soldaten und Königstiger –,
wurde zur 6. Panzerarmee von Sepp Dietrich beordert.
Während im
westlichen Ungarn die Schreckensherrschaft der Pfeilkreuzler tobte,
konsolidierte sich auch die neue „demokratische“ Regierung. Im Zeichen der
neuen Politik begannen die Vorbereitungen für die Vertreibung der
Ungarndeutschen. Die Rote Armee hatte bereits bis Ende Februar mehrere
Zehntausend Zivilisten als Kriegsgefangene verschleppt beziehungsweise als
Zivilarbeiter „mobilisiert“, wie es euphemistisch in den sowjetischen Befehlen
hieß. Außerdem begann eine Pressekampagne: Die Floskeln in den Artikeln zeigen
einige Ähnlichkeiten mit den nur einige Monate früher publizierten,
antisemitischen Hetzartikeln. Die radikale Zeitung Szabad Szó fing schon zu
dieser Zeit mit der Hetze gegenüber den Ungarndeutschen an:
Schwaben in Buda
Als ob in Buda
nichts passiert wäre, nachdem die deutschen Räuber rausgefegt worden sind,
erschienen ihre Nachhuten in Person der um Buda wohnenden Schwaben. Aus ihren
reichlich beladenen Rucksäcken bieten sie der während der Belagerung ausgehungerten
Budaer Bevölkerung die lang ersehnten Nahrungsmittel an. Ihr Auftreten ist
anmaßend, genauso wie ihre Rassengenossen waren. Unsere heimischen Schwaben
vergessen, dass in den letzten Wochen einiges passiert ist, was sie zu mehr
Bescheidenheit verleiten müsste. Wir hoffen, dass die neuen Bodenreformgesetze
[die eine totale Enteignung der Ungarndeutschen eingeleitet hatten] ihrer
Lebensmitteldiktatur ein Ende setzen werden. Aber auch bis die greifen, wäre es
besser, wenn diese neuen Okkupanten unsere mahnenden Worte ernst nehmen:
Maßhalten ist angebracht!
Sándor Márai, der
auch diese Geschehnisse der Zeit aufmerksam in seinem Tagebuch festhielt,
überlebte die Belagerung in Leányfalu, etwa 15 Kilometer nördlich von Buda.
Nachdem die Schlacht um Budapest beendet war, brach er auf, um seine Wohnung im
Burgviertel aufzusuchen. Er ging über den heutigen Margit körút und den Moszkva
tér in die Logodi utca und beschrieb die Eindrücke in seinem Tagebuch: „Der
Reisende hat das Gefühl, nicht durch eine Stadt, sondern zwischen Ausgrabungen
zu laufen. Einige Straßen müssen nach und nach erkannt werden: Dieser
Schutthaufen an der Ecke war vor einigen Tagen noch ein Mietpalast mit fünf
Etagen, jetzt ein Staubhaufen. Hier und da sticht der Eisenzaun der Balkone aus
dem Ruinenhaufen heraus. Die Deutschen richteten im Keller des Hauses ein
Munitionsmagazin ein, das Magazin explodierte und im Luftschutzkeller starben
mehrere Hundert Menschen. Auf einem Platz stehen Skelette von verendeten
Straßenbahnen. Und dann wird das Panorama des Burgviertels sichtbar, wo ich in
den letzten zwanzig Jahren gelebt habe. Die Sonne scheint, das Wetter ist fast
wie im Frühling. Auf dem großen Platz sind Hunderte von krepierten Bomben,
dazwischen Massengräber, mit Zivilisten und Soldaten, die Füße der Leichen
ragen aus dem Boden. Überall Flugzeug- und Autowracks. (…) Von der Straßenecke
aus erblicke ich, was von dem Haus und meiner Wohnung übrig blieb. Durch eine
Fensteröffnung sehe ich Bücher und einen Kronleuchter. Das Haus ist vollkommen vernichtet
und muss gesprengt werden. Die Treppe zu meiner Wohnung ist abgerissen:
Irgendwie klettere ich auf die Etage hoch. In meinem Zimmer finde ich zwischen
den Ruinen des Kachelofens ein Foto von Tolstoj und Gorkij, die im Garten von
Jassnaja Poljana abgebildet sind. Bei dem Spaziergang, als dieses Foto
entstand, soll Tolstoj Gorkij gesagt haben: ,Ich bin bereits 80 Jahre alt und
muss weinen, wenn ich bedenke, dass ich alles umsonst geschrieben habe, die
Menschen haben nichts daraus gelernt und sind nicht besser geworden.’ Das Foto
stecke ich in die Tasche. Meine Bücher liegen auf dem Boden. Der Regen in den
fenster- und dachlosen Zimmern macht aus den 6.000 Büchern einen Brei.“
Eine Meldung der
ungarischen königlichen Polizei aus der zurückeroberten Stadt Székesfehérvár
lautet im Februar 1945 folgendermaßen: „Die Bevölkerung, die die Sowjetarmee
bereits erlebt hat, lebt in ständiger Furcht vor einer neuen Besetzung und das
Volk ist eindeutig der Meinung, dass während der Besetzung keinerlei öffentliche
Sicherheit mehr bestand. Der sowjetische Stadtkommandant war nicht in der Lage,
seinen Willen gegenüber dem Unwesen durchzusetzen, und seine Maßnahmen
gegenüber den plündernden Soldaten waren rein theatralischer Natur. Nach
eindeutigen Aussagen beging die Rote Armee während der Besatzung eine
unendliche Reihe von Willkürtaten. Besonders auffallend ist dies gegenüber den
Frauen, von denen viele geschändet, manche bis zur Ohmacht gequält wurden. Ich
sprach mit einem Vater, dessen 14-jährige Tochter von sechs Soldaten
vergewaltigt wurde. Die Bevölkerung wurde tagtäglich zu Schanzarbeiten
herangezogen und nach der Beendigung kam es vor, dass die Frauen in eine
Scheune gesperrt und von einer abgelösten sowjetischen Einheit vergewaltigt
wurden. (…) Die sowjetische Führung erlaubt keinen Heimaturlaub, auch Briefe
dürfen nur selten geschrieben werden. Von Zuhause bekommt [die Mannschaft]
lediglich zentrale Benachrichtigungen, wonach ihre Verwandten von deutschen und
ungarischen Truppen gefoltert oder umgebracht worden sind. Diese Briefe werden
auch rumgereicht (…). Nach der Meldung unserer Detektive tun sie den Kindern im
nüchternen Zustand nichts an. Mehrmals konnte beobachtet werden, dass ein
Sowjetsoldat ein unbewachtes Kind entdeckte, es in den Arm nahm, streichelte
und mit ihm spielte.“
Sándor Márai
Sándor Márai, 1900 in Kaschau (Košice, heute
Slowakei) geboren, reiste in seiner Jugend sehr viel, studierte einige Jahre in
Berlin und schrieb für deutsche Zeitungen, darunter für die Frankfurter Zeitung
und das Prager Tageblatt. Márai kehrte 1928 nach Budapest zurück und wurde vor
allem in den 30er Jahren durch seine Publikationen bekannt. Er stand sowohl den
faschistischen als auch den kommunistischen Strömungen kritisch gegenüber und
verließ Ungarn 1948 auch aus politischen Gründen. Er ging mit seiner Frau
zunächst nach Paris, London und Salerno, um letztlich 1952 über Kanada nach
Kalifornien auszuwandern, wo er bis zu seinem Freitod 1989 lebte. Seine
zahlreichen Romane und Tagebücher, die wie die Werke Robert Musils und Joseph
Roths heute zum Kanon der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts gehören,
waren in Márais Heimat Ungarn jedoch jahrzehntelang verboten und werden erst
jetzt international wiederentdeckt. Mit der Neuausgabe des Romans „Die Glut“
(1999) wurde Márai als einer der größten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts
anerkannt. Zahlreiche seiner Romane sind inzwischen auch auf Deutsch
erschienen, wie „Das Vermächtnis der Eszter“, „Das Wunder des San Gennaro“,
„Die Nacht vor der Scheidung“, „Wandlungen einer Ehe“ und „Sándor Márai:
Tagebücher und Briefe“.