Nach dem 28. März
1945 war die Auflösung der ungarischen Front nicht mehr zu verhindern. Zu
dieser Zeit waren nur noch die Gebiete nördlich von Gy?r und westlich von
Szombathely beziehungsweise die Komitate Vas und Zala in der Hand der
Wehrmacht. Bald überschlugen sich die Ereignisse auch im Reichsgebiet.
Die ersten
sowjetischen Einheiten überschritten am 29. März bei Klostermarienberg
(westlich von K?szeg, deutsch Güns) die Reichsgrenze. Die Reichsschutzstellung
war nur in Teilen fertig gestellt, und auch die vorhandenen Stellen waren nur
schwach oder überhaupt nicht mit Militär besetzt. Im besten Fall wurden
Volkssturmbataillone eingesetzt, die von ihrer Ausbildung, Ausrüstung und
Bewaffnung her höchstens für einige Stunden Widerstand leisten konnten. Mitte
Februar wurden die Volkssturm-Bataillone der Wehrkreise Wien und Salzburg aus
der Reichsschutzstellung zurückgezogen und die Volkssturmmänner zur
Feldbestellung und in den Fabriken eingesetzt. Am 26. März wurde die
Wiederbesetzung der Reichsschutzstellung verordnet und am 29. März beide
Wehrkreise der Heeresgruppe unterstellt.
Diese Maßnahmen
kamen aber zu spät, denn die sowjetischen Truppen erreichten wesentlich
schneller die Reichsschutzstellung als die zu Fuß marschierenden Volkssturmbataillone
und durchbrachen die Linien zwischen K?szeg und dem Neusiedler-See. Das
hügelige, unübersichtliche Gelände hätte hier eine hinhaltende Verteidigung
besonders begünstigt. Dass es nicht dazu kam, ist nur mit dem fast
vollständigen Fehlen von schlagkräftigen deutschen Einheiten zu erklären.
Selbst die Leitha (ungarisch Lajta) und die dahinter liegenden Flüsse
bedeuteten für die Sowjetarmee kein Hindernis.
Am 31. März
erreichten die Panzer der 6. Garde-Panzerarmee die Wiener Neustadt. Es zeigte
sich, dass die sowjetische Führung die Taktik der tiefen Operationen perfekt
beherrschte, denn die Panzer Krawtschenkos umgingen die
Verteidigungsstützpunkte und nutzten die Tatsache, dass es keine
zusammenhängende Front gab, für immer neue Vorstöße. Die sowjetische Offensive
konnte dank der vorhandenen Reserven aus der Tiefe immer genährt werden.
Deshalb war die Eliminierung der wenigen deutschen Stützpunkte, die sich wie
Igelstellungen verteidigten, kein Problem. Die Wiener Neustadt war am kommenden
Tag von drei Seiten umzingelt. Die Verteidiger ließen sich nicht einkesseln,
sondern räumten lieber die Stadt, die durch vorherige alliierte Luftangriffe
beinahe vernichtet worden war.
Die Stawka befahl
Tolbuchin am 1. April das Vordringen seiner Truppen bis zur Westgrenze der
vorgesehenen sowjetischen Besatzungszone in der Steiermark und im Raabtal. Der
Hauptschlag galt aber Wien, das von Westen umgegangen werden sollte. Die sich
verteidigenden Einheiten im Raabtal wurden dagegen vernachlässigt, sodass hier
die Front für zehn Tage zum Stillstand kam. Die Reichsschutzstellung lag hier
zwar nördlich von der Raab, jedoch auf ungarischem Gebiet. Zwischen
Szentgothárd und Körmend hielten die IV. SS. Panzerkorps und einige ungarische
Einheiten noch Rábafüzes, Szentimretelep und Magyarbüks. Nur Nemesmedves konnte
am 4. April vom 18. sowjetischen Panzerkorps erobert werden, aber auch hier
blieb die Front vorübergehend stehen.
Nördlich von der
Wiener Neustadt war jedoch alles in Bewegung. Am 4. April fiel die kaum
verteidigte „Festung“ Preßburg, die Front verschob sich hier an die
slowakisch-tschechische Grenze und in die Kleinen Karpaten. Die ersten
sowjetischen Panzerspitzen waren am 5. April schon auf der Höhe von Preßbaum,
20 Kilometer westlich von Wien, womit die Einkesselung der Stadt eingeleitet
war.
Die sowjetische
und die ungarische Geschichtsschreibung feierte fünfzig Jahre lang den 4. April
als Kriegsende in Ungarn und als „Tag der Befreiung“, obwohl an diesem Tag
keines der beiden Ereignisse eintrat. Von einer Befreiung konnte angesichts der
politischen Methoden der Sowjets keine Rede sein, auch wenn sich viele Ungarn
durch die Ankunft der Roten Armee durchaus gerettet fühlten. Da die Kämpfe auf
ungarischem Gebiet noch bis zum 12. April andauerten, ist auch die These über
das „Kriegsende in Ungarn“ falsch. Tolbuchin hatte jedoch guten Grund dazu,
seinem Vorgesetzten das Kriegsende in Ungarn verfrüht mitzuteilen. Stalin
drängte seine Untergebenen mit einer umbarmherzigen Hast. Menschenleben durften
nie geschont werden. Für diejenigen Frontkommandeure, die zu wenige
Erfolgsmeldungen auftischten, bestand die Gefahr, abgelöst, degradiert oder gar
verhaftet zu werden. Marschall Rokossowskij und andere Generäle kämpften bis
zum Lebensende mit den Gesundheitsschäden, die durch die Gulag-Haft vor 1941
verursacht worden waren, und alle erinnerten sich an die Erschießung des
Führungsstabes der Kiewer Front im Jahre 1941. Deshalb hielt man jeden Tag
bereits eroberte Ortschaften „in der Reserve“ oder gab verfrühte Meldungen über
Erfolge ab. Im Falle Ungarns wurde dieser Schwindel nicht aufgedeckt. Die
wenigen von den deutsch-ungarischen Truppen noch besetzten Dörfer hatten
keinerlei strategische Bedeutung.
In Budapest
wurden zu dieser Zeit bereits die sowjetischen Siegesdenkmäler gebaut. Die
Kinos spielten Filme wie „Das Parteibuch“, „Die Schlacht um Orel“ und die
neueste sowjetische Wochenschau über die Schlacht um Budapest. Letztere wurde
übrigens mit derselben Musik untermalt wie die Wehrmacht-Wochenschau: das „Les
Preludes“ von Franz Liszt. Die wahllose Zwangsverschleppung von Zivilisten in
die Kriegsgefangenschaft hörte noch nicht ganz auf: In Gödöll? richteten die
Sowjets ein riesiges Konzentrationslager ein, wo Zehntausende Budapester Bürger
inhaftiert wurden.
An ähnlichen
Aktionen nahmen auch ungarische Behörden teil: Im Komitat Baranya organisierte
György Bodor, ein Vertreter der Nationalen Bauernpartei, eine unmenschliche
Vertreibung: Die ungarndeutschen Dorfbewohner wurden aus ihren Häusern gejagt
und mussten auf Feldern campieren, die mit Stacheldraht umzäunt waren. Ihre
Häuser bekamen die aus Jugoslawien vertriebenen Ungarn, die drei Jahre vorher
im Rahmen einer Rücksiedlungsaktion aus der Bukowina in die Woiwodina
umgesiedelt worden waren und nun vor den kommunistischen Partisanen fliehen
mussten. Auch die Slowakei fing an, wahllos Ungarn aus Nordungarn zu
vertreiben.
Diese Aktionen
mündeten innerhalb weniger Monate in einem vertraglich „geregelten“
Bevölkerungsaustausch, der aber auch unzählige menschliche Tragödien verursachte.
Aus Siebenbürgen kamen nur wenige Flüchtlinge: Hier wütete nämlich noch im
Oktober und November 1945 die rumänisch-nationalistische Maniu-Garde derart
schrecklich, dass die Rote Armee die Verwaltung Nordsiebenbürgens übernehmen
musste und die rumänischen Polizeieinheiten ausgewiesen wurden. Die Lage
konsolidierte sich hier dann durch die Anwesenheit der sowjetischen Soldaten.