Der Frühling des
Jahres 1945 überraschte mit seiner Pracht. Tagsüber herrschte sonniges Wetter.
Die Natur nahm von dem Krieg anscheinend keine Notiz, obwohl gerade in diesen
Tagen die größte Offensive des Dritten Reiches in Ungarn zusammenbrach. Am 16.
März starteten die 2. und 3. Ukrainische Front die längst vorbereitete
Gegenoffensive, und in wenigen Tagen bahnte sich durch die sinnlosen
Haltebefehle Hitlers eine Katastrophe von ungeahnter Größenordnung an.
Am 21. März gab
Gruppenführer Ullrich, Kommandeur der 5. SS-Panzerdivision, trotz
„Führerbefehl“ Székesfehérvár auf. Die Stadt wechselte in vier Monaten zum
dritten Mal ihren Besitzer. Die festgefahrene deutsche Offensive erreichte eine
Woche zuvor südwestlich des Balaton einen tiefen Einschnitt in den sowjetischen
Linien. Diese Stellungen waren von Norden schon seit Tagen überflügelt, und mit
dem Verlust von Székesfehérvár und Várpalota drohte die Einkesselung der
gesamten Angriffsgruppe.
Nicht nur Hitler,
sondern auch das OKH wollten die Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen: Der Chef
der Führungsabteilung im OKH bemerkte, die Gefahr bestehe „daß wir ins Gleiten
kommen, wenn wir die Stadt [Székesfehérvár] aufgeben. Außerdem gibt es an der
ganzen Ostfront keine Stelle, wo das Kräfteverhältnis so günstig ist, wie bei
der Heeresgruppe Süd (…) Der Führer ist schon ungehalten, weil der Angriff
der 6. Panzerarmee keine besseren Ergebnisse gebracht hat.“ Auch Guderian war
bitter enttäuscht: Die „Schwerfälligkeit und Nachlässigkeit“ der Führung sei
empörend. Nur darauf sei die Erfolglosigkeit zurückzuführen. „Mit den Führern
muss Fraktur geredet werden“, antwortete er dem Chef des Stabes der
Heeresgruppe Süd. Hitler und Generaloberst Otto Wöhler, der Oberbefehlshaber
der Heeresgruppe, hielten den Befehl immer noch aufrecht, dass kein Stückchen
Boden ohne Kampf aufgegeben werden dürfe. Die Führung der am meisten
gefährdeten Gruppierung südwestlich des Plattensees trotzte dem Befehl und zog
ihre Truppen langsam nach Nordwesten zurück. Seltsamerweise wurde dies auch
später nicht bestraft, obwohl sie gegen Führerbefehl handelte.
Am 22. März
verband nur noch ein 2,5 bis 3 Kilometer breiter Korridor die sieben
eingekesselten Divisionen. Eine Katastrophe bahnte sich an. Der 9.
SS-Panzerdivision gelang es jedoch, diesen Korridor offen zu halten, bis die
meisten deutschen Soldaten ihren Anschluss fanden. Die schwere Bewaffnung ging
dabei aber größtenteils verloren. Für die Heftigkeit der Kämpfe ist es
bezeichnend, dass das hier eingesetzte SS-Panzerregiment an einem Tag 108
gegnerische Panzer abschoss. Während des Ausbruchs wurde die 44. Division
„Hoch- und Deutschmeister“ fast vollständig aufgerieben, auch ihr Kommandeur
Generalleutnant von Rost fiel.
Die Einkesselung scheiterte zunächst
Ein wichtiger
Erfolg des Oberbefehlshabers der 3. Ukrainischen Front Marschall Tolbuchin
bestand darin, dass er trotz des Scheiterns der Einkesselung imstande war, nach
der ersten Etappe der „Wiener Angriffsoperation“ (Durchbruch der Front und
Vernichtung der 6. Panzerarmee) sofort in die zweite Etappe (Verfolgung des
Gegners bis zum Wiener Raum) überzugehen. Der nun eingetretene Erfolg war der
vorherigen Schonung der 9. Gardearmee und der 6. Garde-Panzerarmee zu
verdanken. Diese durften während der deutschen Offensive nicht eingreifen,
obwohl die Lage in der zweiten Märzwoche bedrohlich erschien. Dadurch gelang es
beiden Fronten, eine klassische tiefe Operation durchzuführen. Es gab auch
einen besonderen Grund zur Eile: Stalin befürchtete eine Sonderkapitulation der
Wehrmacht in Italien und dadurch ein Erscheinen alliierter Truppen in
Österreich, was nicht in seine Pläne passte.
Den Armeen der
Heeresgruppe Süd gelang es nicht, eine zusammenhängende Verteidigung zu
organisieren. Deshalb nutzten die seit September 1944 ausgebauten und teils
schon fertigen Verteidigungsstellungen nichts. Die „Ostwall“ genannte
Reichsschutzstellung war ein Sonderprojekt der NS-Führung. Die vorhandenen
deutschen Arbeitskräfte reichten bei weitem nicht aus, um die geplanten
Befestigungen fertig zu stellen. Deshalb wurden in der für die
Rekrutengewinnung der Wehrmacht organisierten „Ungarn-Aktion“ gezielt Pionier-
und Bausoldaten geworben.
Die wichtigste
Arbeitskraftquelle stellten aber die Budapester Juden dar, deren Deportation im
Sommer 1944 ausblieb. Sie wurden ab Ende November in erschöpfenden Fußmärschen
unter Aufsicht ungarischer Wachmannschaften zu den Reichsgrenzen getrieben. Für
diese Arbeitssklaven wurden besondere KZ-Lager entlang der Baustellen
errichtet. Zehntausende wurden hier ermordet oder starben an den Entbehrungen.
Neben ungarischen Juden bauten Angehörige von elf Nationen an den
Befestigungen.
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Soldaten wurden gewissenlos geopfert
Es grenzt an ein
Wunder, dass die deutschen Divisionen während des Rückzugs nicht ganz eingekesselt
oder aufgerieben wurden. Generaloberst Balck (Oberbefehlshaber der 6. Armee),
Generaloberst Guderian (Chef des OKW) und Wöhler schoben die Verantwortung
einander, der Waffen-SS und den eigenen Soldaten zu, denen „Versagen“
attestiert wurde. Die SS-Führer beschuldigten wiederum General Balck – am 23.
März wurde folgender Funkspruch an die 6. Panzerarmee abgegeben: „Division
restlos zerschlagen und wird ausgenutzt bis zum letzten. Bitte um sofortige
Herauslösung aus Verband Balck.“
Diejenigen, die
sich am wenigsten wehren konnten, waren die einfachen Soldaten. Sie wurden in
dieser letzten Phase des Krieges nicht nur gewissenlos geopfert, sondern auch
genauso gewissenlos bestraft. Die Befehle über „die Bewahrung der Manneszucht“
verordneten die sofortige Erschießung der „Drückeberger“ – bis zum 3. April
wurden allein im Bereich der 6. Panzerarmee über 500 Soldaten ohne standgerichtliches Urteil
erschossen. Jedes Mittel zur Erhöhung der Kampfstärke wurde legitim: Spezialisten
und Panzerbesatzungen wurden mit einem Gewehr in die vordersten Linien
geschickt, ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Verluste. Hitler war „außer
sich“ über „die Haltung der SS-Panzerdivisionen“ und beauftragte Himmler, die
Angelegenheit zu untersuchen, der sich aber nicht einmal bis zu den
Divisionsgefechtsständen traute. Am 26. März bekam Hitler einen Wutanfall, als
ihm die Bitte der 6. Panzerarme um einen weiteren Rückzug vorgetragen wurde:
Die Leibstandarte habe „nicht mehr das Recht, meinen Namen zu tragen“ – war
seine Reaktion. Als Folge gab er durch Himmler den so genannten
Ärmelstreifenbefehl aus. Die Frontlücke zwischen der 6. Armee und 6.
Panzerarmee konnte bis zum Erreichen der Alpen nicht geschlossen werden. Die
Befehlsstruktur der Heeresgruppe versank im Chaos, die Unterstellungsverhältnisse
wechselten fast täglich.
Während des
Rückzugs verloren die Divisionen der Heeresgruppe Süd die Mehrheit ihrer über
2.500 Panzer und Schützenpanzerwagen, und zwar meist ohne Feindeinwirkung. Die
teuren Waffen mussten mangels Treibstoff gesprengt oder an der Straße stehen
gelassen werden – am Nordufer des Balaton und im Bakony-Gebirge blieben ganze
Kolonnen von Panzerfahrzeugen stehen. Die 2. und 3. Ukrainische Front konnte
aus den erbeuteten Fahrzeugen eigene Kompanien aufstellen.
Am 25. März
begann Malinowskijs 2. Ukrainische Front den schon lange erwarteten Angriff
nördlich der Donau. Die Verteidigung fiel in diesem Abschnitt wie ein
Kartenhaus zusammen, eine vorübergehende neue Front konnte erst an der
deutsch-slowakischen Grenze gebildet werden. Die Tatsache, dass diese Operation
erst neun Tage nach der Offensive in Transdanubien eröffnet wurde, war ein
schwerwiegender Planungsfehler. Wären nämlich beide gleichzeitig erfolgt, dann
hätte sich die 3. ungarische Armee und der Nordflügel der Armeegruppe Balck vor
der Einkesselung durch die Truppen Tolbuchins nicht durch das Übersetzen auf
das Nordufer retten können.
Deutschland
brannte zu dieser Zeit schon an allen Ecken. Die Westalliierten überschritten
den Rhein, in Ostpreußen und Schlesien tobten heftige Kämpfe, und 60 Kilometer
vor Berlin bereitete sich Schukow auf die letzte Schlacht des zweiten
Weltkrieges vor. Ungarn aber blieb Thema Nummer eins im Führerhauptquartier.