Charles Simonyi und Goethes Faust auf der ISS
Es war ein routinemäßiger Weltraumflug zur ISS, an Bord von Sojus 15 zwei russische Astronauten und der ,,Weltraumtourist“ ungarischer Abstammung Charles Simonyi. Seine öffentliche Ankündigung, auf der ISS Goethes ,,Faust“ zu lesen, wurde auf der Erde mit Verwunderung registriert. Dieser 15. Sojus-Flug endete mit einer blutigen Geiselnahme im NASA-Kontrollzentrum in Houston.
Die ISS umrundet die Erde in 390 Kilometern Höhe. An Bord befand sich für zehn Tage der Weltraumtourist Simonyi, der 1964 im Alter von 17 Jahren aus Ungarn in die USA emigriert war. Der russischen Weltraumbehörde entrichtete er für den Flug 25 Mio. US-Dollar. Da sein Privatvermögen auf etwa 1 Mrd. US-Dollar geschätzt wird, dürfte ihn dies nicht sonderlich geschmerzt haben.
Begonnen hatte der junge ungarische Emigrant beim Software-Hersteller Microsoft, war dort zum Chefentwickler aufgestiegen und hatte an der Entwicklung der Software-Programme Word und Excel mitgewirkt. Seit mehreren Jahren besitzt Simonyi eine eigene IT-Firma, die Intentional Software Corporation. Mit auf die Reise zur ISS nahm er neben Goethes ,,Faust“ auch eine alte russische Lochkarte, die er als 17-Jähriger programmiert hatte.
Entspannt und glücklich auf der ISS
Starttermin vom russischen Weltraumzentrum Baikonur in Kasachstan war am 9. April 2007 um 19.31 Uhr mitteleuropäischer Zeit. Zwei Tage später, am 11. April um 21.10 Uhr, dockte die Sojus 15 an die ISS an. Bald danach öffneten sich die Luke des Raumschiffs und die Schleusentür der ISS. Die drei Ankommenden, Charles Simonyi, Fjodor Jurtschichin und Oleg Kotow, wurden von der ISS-Dauerbesatzung Michail Tjurin, Michael Lope-Alegria und der Astronautin Sunita Williams begrüßt.
Entspannt und glücklich erreichte Charles Simonyi die ISS. Übermütig drehte er zur Begrüßung einen Salto und demonstrierte vor laufenden Kameras, die Bilder zur Erde funkten, sein überschwängliches Gefühl in der Schwerelosigkeit. Er fühle sich leichter, befreiter und ganz anders als bei den anstrengenden Parabelflügen, berichtete er. Beschwingt gab er Fernsehsendern auf der Erde Interviews und richtete Grüße an seine Mutter aus, die in Star City, der russischen Weltraumstadt bei Baikonur, der Rückkehr ihres Sohnes harrte.
Ein ,,faustisches“ Erlebnis im Weltall
Im Gegensatz zu den ersten russischen Astronauten in den ,,Sputniks“, die ,,droben im Himmel waren und Gott nicht fanden“, las Weltraumtourist Simonyi in der bitterkalten und sternenklaren Atmosphäre Goethes ,,Faust“. Das philosophische Thema dieses Klassikers, ursprünglich vom englischen Dichter Christopher Marlowe (1564 bis 1593) als Puppenspiel verfasst, wurde von Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832) in ein Bühnenschauspiel umgearbeitet.
In Goethes ,,Faust“ unterhält sich Gott im Himmel mit dem Teufel über den vorwärts strebenden Gelehrten auf Erden. Dr. Heinrich Faust überschreibt um des Wissens willen, per Vertrag und mit Blut unterschrieben, seine Seele nach dem Tod dem Teufel. Der Teufel Mephistopheles, der auf Erden auch andere Gestalten annehmen kann, macht als Gegenleistung für die versprochene Seele die kühnsten Träume seines Auftraggebers wahr.
Ein schwerer Abschied von der ISS
Die Zeit auf der ISS sei sprichwörtlich wie im Fluge vergangen, berichtete Simonyi später. Zehn Tage seien nur ein kurzer Augenblick im Leben eines Menschen, doch heißt es aphoristisch im ,,Faust“: ,,Verweile doch, du bist so schön!“
Die Rückreise trat Simonyi in der Kapsel liegend an, der bisherige ISS-Commander Michael Lopez-Alegria und der russische Flugingenieur Michail Tjurin neben ihm. Von den Ereignissen in der Rückflugkapsel berichtet der Weltraumtourist im Internet auf der Seite http://charlesinspace.com/. Ein wenig traurig sei er gewesen, schreibt er, dass er seinen Aufenthaltsort ISS für immer zurücklassen musste.
In Ermangelung einer geeigneten Ablage drückte er im Liegen seine Bücher mit den Händen fest an die Brust. Der Preis, den er für das ,,faustische Abenteuer im Weltall“ gezahlt hatte, war hoch, doch als Gegenleistung konnte er unerhörte innere Eindrücke beim Blick aus 390 Kilometern Höhe auf unseren ,,blauen Planeten“ verbuchen. Im ,,Faust“ wünscht die Hauptperson, den tiefsten Geheimnissen und größten Rätseln des menschlichen Daseins näher zu kommen. Doch werden die Menschen in seiner Nähe nicht glücklich mit ihm, weil ihn der in eine menschliche Gestalt verwandelte Teufel begleitet.
Eine mittelschwere Panne trat ein, als die drei Astronauten in der Rückkehrkapsel lagen und der Kabinendruck auf
Während Simonyi und seine Crew abdockten und den rasanten Rückflug – faktisch einen Sturzflug mit zigfacher Schallgeschwindigkeit in genau vorberechneten Kreisbahnen – begannen, geschah in den USA Unerhörtes: Am Rückflugtag, dem 20. April 2007, drang auf dem Gelände des NASA-Kontrollzentrums in Houston/ Texas ein NASA-Ingenieur in ein Verwaltungsgebäude ein und inszenierte dort mit vorgehaltener Waffe eine Geiselnahme. Das Johnson-Space Center musste komplett abgesperrt und die umliegenden Gebäude evakuiert werden.
Doch Charles Simonyi in der Sojus-Kapsel spürte davon nichts. Die Leitung seines Rückflugs lag beim russischen Leitzentrum Koroljow bei Moskau. Während die drei ahnungslosen Astronauten zum Landeanflug in der kasachischen Steppe ansetzten, erschoss der Geiselnehmer in Houston seine letzte Geisel und richtete danach sich selbst.
Die Weltraum-Kapsel mit Charles Simonyi schwebte in Kasachstan an einem Fallschirm zur Erde, ihre Landung war sanft. Der wenig utopisch denkende deutsche Gelehrte Oswald Spengler (1880 bis 1937), der in seinem kulturkritischen Werk ,,Der Untergang des Abendlandes“ den ,,faustischen“ vom ,,magischen“ Menschen unterscheidet, hätte an diesem ,,faustischen“ Charles Simonyi seine helle Freude gehabt.