Das Tagebuch der ungarischen KZ-Inhaftierten Ágnes Rózsa
"Dieser Mantel hier ist meine einzige Möglichkeit zum Selbstmord. Mein Harn ist blutig, mein eiternder Zahn quält mich, ich bin ein dreckiges, erbärmliches, zerbrochenes, hungriges menschliches Wrack geworden. Ich habe keinen Lebenswillen mehr, er hatte sich in mir aufgelöst. In Auschwitz wäre es einfach gewesen: Ich hätte nur den Draht anfassen müssen. Aber auf welche Weise kann man sich in einer Schule umbringen?“
Es ist der 28. Februar 1945, als Ágnes Rózsa zum ersten Mal ihren Mut verliert. Die ungarische Jüdin hat zu diesem Zeitpunkt fast neun Monate seelischer und körperlicher Grausamkeiten hinter sich, zuerst im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, danach im Arbeitslager in Nürnberg. Wie durch ein Wunder hatte sie bis dahin überlebt, sie war den Auschwitzer Qualen nicht zum Opfer gefallen: dem sinnlosen Steineschleppen, den Schlägen, der Unmenschlichkeit der Aufseher, die den Häftlingen nicht einmal erlaubten, die Toilette zu benutzen – oder das, was man in Au-schwitz so nannte. Und natürlich dem Mangel an Nahrung, die aus purer Schikane nicht nur viel zu wenig, sondern häufig auch verdorben war. ,,Mein Gesicht wurde schmutzig von den Tränen und von der Suppe, während ich mich nach Kräften bemühte, noch einen Schluck von dieser ekligen, madigen Gerstensuppe hinunter zu bekommen“, schreibt Ágnes Rózsa später. ,,Als ich zu würgen anfing, drückte ich mir die Kehle zu, damit ich die so schwer erbettelte Suppe nicht erbreche.“
Alltag im Lager
Ágnes Rózsa hat überlebt, weil sie überleben wollte. Bis zu diesem Tag im Februar zwingt sie sich, nach vorn zu schauen. Was sie am Leben hält, sind die Gedanken an ihren geliebten Mann. Ihm hat sie versprochen, alles zu tun, um ihn wieder zu sehen. Und es sind die Briefe, die sie an ihn schreibt, auch wenn sie diese niemals abschickt. Mit dem Schreiben beginnt sie in Nürnberg. Von Dezember 1944 bis Mai 1945 notiert sie fast täglich, was ihr widerfährt: Die Zwangsarbeit in den Siemens-Schuckert-Werken, die zunehmenden Bombenangriffe auf die Stadt und schließlich die vollständige Zerstörung Nürnbergs und des Lagers, die sie zwingen, in eine Schule umzuziehen – und kurz darauf ihre dritte Deportierung, diesmal ins tschechische Holleischen.
Zu Beginn dominieren die schrecklichen Erinnerungen an Auschwitz das Tagebuch, später widmet sich die damals 34-Jährige vor allem dem Lageralltag in Nürnberg und Holleischen, dem Zusammenleben in einer extremen Situation. Während die Autorin mit einigen ihrer Lagerschwestern eine enge Freundschaft verbindet, sind andere ihr zutiefst verhasst: jene Frauen, die Essen stehlen oder ihre Kameradinnen bei der SS anschwärzen. Die Autorin dagegen tut alles, um trotz aller Demütigungen ihre Menschlichkeit zu bewahren. Zwischen der Verzweiflung schreibt sie immer wieder von den kleinen Dingen, die ihr den Alltag zumindest ein bisschen versüßen. Und sie behält sogar ihren Humor! Immer wieder macht sie sich über sich selbst oder über die Aufseherinnen lustig. ,,Abends in der Werkstatt bewachte uns Annie. Ihre Augen funkelten vor Hass, wenn sie uns ansah. Sie schaut uns immer so an. Es ist bestimmt anstrengend, mit so einem andauernden Hass zu leben“, schreibt sie. Oder: ,,Heute fing ich mir drei Flöhe. Die sind auch träge geworden. Anscheinend finden sie nichts mehr zu fressen an uns.“
Gefährliches Schreiben
Das Schreiben wird für sie so wichtig wie das Atmen – dabei hätte es sie auch töten können. Allein, um an Papier zu kommen, musste sie häufig Nahrungsmittel eintauschen. Dazu kamen die ständigen Lagerdurchsuchungen durch die SS. Ágnes Rózsa trug das Tagebuch aus diesem Grund immer bei sich. Wäre es entdeckt worden, hätte sie dafür sterben können. Ein Wunder, wie sie es die ganze Zeit verstecken konnte: Immerhin füllt ihr Werk heute 250 Seiten, und alle ihre Lagerschwestern – Freundinnen wie Feindinnen – wussten von dem ,,kauzigen“ Hobby dieser Lehrerin aus Nagyvárad.
Erstmals veröffentlicht wurde das Buch 1971 unter dem Titel ,,Jövőlesők“ – die auf die Zukunft hoffen. Im vergangenen Jahr erschien es endlich auch auf Deutsch. Man kann dieses Buch durchaus mit dem Tagebuch der Anne Frank auf eine Stufe stellen. Ágnes Rózsa schreibt so bildhaft und mit einem scharfen Blick für Details, dass man zumindest annähernd nachvollziehen kann, was sie durchgemacht haben muss. Ergänzt wird die deutsche Übersetzung unter anderem durch einen wissenschaftlichen Text von Franz Horváth sowie einen kurzen Beitrag von Magda Watts, einer Lagerschwester Rószas, die damals erst 15 Jahre alt war. Sie bezeichnet das Tagebuch heute als ihre ,,Bibel“ und schreibt: ,,Erst als Erwachsene konnte ich verstehen, warum sie es damals für wichtig hielt, alles aufzuschreiben. Durch das Schreiben konnte sie all das Furchtbare ertragen.“ Was einmal auf dem Papier war, war überstanden. Schon am 1. März 1945 kehrt Ágnes Rózsas Lebenswille zurück.
Ágnes Rózsa: Solange ich lebe, hoffe ich
Testimon, Nürnberg 2006
ISBN: 978-3-00-019674-4
Preis: 20 Euro