Paul Lendvai: Reflexionen eines kritischen Europäers
Wer etwas über Osteuropa wissen will, muss Paul Lendvai lesen. Diesen Ruf hat sich der ungarischstämmige Journalist, der seit
Dass das Buch ,,Reflexionen eines kritischen Europäers“ heißt, deutet bereits daraufhin, dass Lendvai sich zwar klar zur EU bekennt, ihre Geschichte aber gleichzeitig als ,,verkannte Erfolgsstory“ bezeichnet, deren Fortentwicklung ihm trotzdem am Herzen liegt. Ähnlich differenziert setzt er sich mit seiner Wahlheimat auseinander: Wie viele andere ,,Zugraste“ (Zugereiste), ist auch Lendvai ein österreichischer Patriot, der dabei aber distanziert das ,,Phänomen Wolfgang Schüssel“ zu ergründen sucht.
In seinen Beiträgen befasst sich Lendvai vor allem mit Osteuropa: Die Themen reichen von den Turbulenzen auf dem Balkan und in Russland über verschiedene Formen des Nationalismus bis hin zu dem Einfluss der Medien. Wer sich durch den schön gestalteten Band durchgelesen hat, wird mit dem Einblick eines Kenners belohnt.
Sein 1972 veröffentlichtes Buch ,,Antisemitismus ohne Juden“ gilt als Standardwerk und auch in seinem neuen Werk widmet er ein Kapitel dem Antisemitismus, in dem es unter anderem heißt: ,,Die Grenzlinie zwischen berechtigter Kritik am Staate Israel oder der israelischen Regierung und bewusstem oder unbewusstem Antisemitismus ist auch für aufrechte Demokraten sehr schwer zu ziehen. Für Juden verläuft sie seit Auschwitz im Geiste, im Herzen, in der Erinnerung, ja im Blut. In Zeiten des weltweiten Aufstiegs tribalen Hasses braucht man aber weniger denn je unverbesserliche Kiebitze einer tragischen Entwicklung.“
Paul Lendvai wurde 1929 als Sohn jüdischer Eltern in Budapest geboren und 1944 mit seinem Vater verschleppt. Ein Schweizer Schutzpass rettete ihnen das Leben. Lendvai schrieb für sozialdemokratische Zeitungen, wurde 1953 verhaftet und mit drei Jahren Berufsverbot bestraft. Nach der Ungarischen Revolution floh er nach Wien, wo er als Übersetzer, später als Journalist arbeitete.
Paul Lendvai: Reflexionen eines kritischen Europäers
Kremayr und Scheriau, Wien 2005
ISBN: 3-218-00758-5
Preis: 22 Euro